Neulich sassen wir auf einer Restaurantterrasse, die zu einem Resort gehört, dem auch ein Golfclub angeschlossen ist, kurz, es war eine gediegene Angelegenheit. Wie so oft war Victor der einzige nicht weisse Mann im Lokal, dafür der mit den längsten Haaren. Er begann sofort eine angeregte Diskussion auf Spanisch mit dem Busboy (Anm.d.Red: Person, die Tische abräumt). Oscar war gleich hier an der Küste aufgewachsen, seine Eltern pflückten Erdbeeren und Artischocken im Hinterland, während Oscar hoffte, bald zum Kellner aufzusteigen. Er erzählte weiter, dass seine kleine Schwester an der renommierten Universität in Berkeley studierte und dass sie sich «wie immer vorgedrängt hat, als die Hirnmasse verteilt wurde».
Da unterbrach ihn Victor: «Hör ich richtig?» Die Hintergrundmusik war so diskret, dass ich sie bisher kaum wahrgenommen hatte. Jetzt summte Victor leise mit, es ging um eine Mutter, die ihre Kinder nicht ernähren konnte. Interessante Beschallung für eine derart schnieke Restaurantterrasse, dachte ich. «Von wegen politische Lieder», sagte Victor zu mir.
Ein paar Tage zuvor war die italienische Sängerin Milva gestorben, ihre Videoclips überschwemmten die sozialen Medien, ich klickte jeden Link an. Und jedes Mal, wenn ich ihr tief empfundenes «Bella Ciao» hörte, liefen mir die Tränen übers Gesicht. Auch, als ich Victor das Lied vorspielte. Erklären konnte ich das nicht, ich gehöre nicht zur Arbeiterschicht, niemand in meiner Familie hat auf einem Reisfeld gearbeitet oder sich den Partisanen angeschlossen.
«Ein guter politischer Song muss dich zum Weinen bringen», sagte Victor. «Sonst taugt er nichts.» Während wir jetzt unter geschmackvollen Sonnenschirmen sassen und unsere zwanzigfränkigen Bauernomeletts verzehrten, liefen, allerdings zu leise, um mich zu Tränen zu rühren, nacheinander alle Protestlieder der Siebzigerjahre, Bob Dylan und John Lennon und Joan Baez. Victor gigelte während der ganzen Mahlzeit entzückt vor sich hin.
«Unsere Chefin hat diese Kompilation zusammengestellt», murmelte Oscar, der unsere Teller abräumte. «Das ist die Generation unserer Gäste, versteht ihr. Früher demonstrierten sie gegen den Krieg, jetzt spielen sie Golf. Die mögen das. Und was glaubt ihr: Die Trinkgelder sind massiv besser, seit wir das abspielen.»
«Erinnere dich, wer du bist», murmelte ich. Aus meiner Lieblingssage der Hindus, die mir, ich gebe es zu, in einem Yogastudio erzählt wurde: Der Affengott Hanuman musste einen gewaltigen Sprung vom Festland auf die Insel Sri Lanka wagen, um eine dort gefangen gehaltene Prinzessin zu befreien. Doch er zögerte, er traute sich diesen Kraftakt nicht zu. Da spielte ihm sein Freund, der Anführer der Bärenarmee, ein Lied vor. «Erinnere dich, wer du bist», sang er und zählte in sieben Strophen oder mehr alle guten Eigenschaften und Fähigkeiten auf, die den Affengott auszeichnen. Und Hanuman sprang.
«Erinnere dich, wer du bist», sangen auch die alten Barden. Sie beschworen die Jugend, sie rührten an vergessen geglaubte Ideale, weckten das verschlafene soziale Gewissen und öffneten das Portemonnaie. Auch bei uns.
«Wink verstand, cabrón», sagte Victor, und Oscar grinste.