Milena Moser
Das Herz ausschalten

In der Schweiz nutze ich den öffentlichen Verkehr sehr viel häufiger und lieber als in Amerika – in erster Linie, weil er existiert und funktioniert und weil die Fahrten eine reine Freude sind. Auch, weil sie eine unerschöpfliche Quelle der Inspiration darstellen.
Publiziert: 24.05.2021 um 14:49 Uhr
Die Schriftstellerin Milena Moser schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Das schöne Leben der Toten».
Foto: Milena Moser
Milena Moser

Neulich im Bus unterhielten sich zwei vermutlich noch sehr junge Männer lautstark über die korrekte Einnahme diverser Freizeitdrogen, die man je nachdem mit Alkohol kombinieren sollte oder eben lieber nicht. Dass sie vermutlich sehr jung waren, schloss ich aus der Aussage: «Ich nehme das Zeug ja schon sehr lange, sicher zwei Jahre!» Man muss sehr jung sein, um zwei Jahre als eine lange Zeit zu empfinden. Je älter man wird, desto schneller vergehen sie, die Jahre. Der ganze Bus versank in andächtigem Schweigen. Ich war vermutlich nicht die Einzige, die sich Notizen machte. Da überholte uns eine Ambulanz mit jaulender Sirene, und die jungen Männer schnaubten verächtlich. «Sicher wieder so ein Dschönki!»

Da lief es mir kalt über den Rücken. Das ging mir noch lange nach.

Romantischer wurde es dann in einem Tramwagen, in dem sich zwei Frauen intensiv miteinander unterhielten. Worüber, das weiss ich nicht genau. Sie bewegten sich im Gedränge an mir vorbei zum Ausgang, und ich hörte nur zwei Sätze:

«Manchmal frag ich mich, ob man das Herz nicht einfach ausschalten könnte.»

«So ganz ausschalten, meinst du? Nein, das glaub ich nicht.»

Sie reden über die Liebe, dachte ich sofort und wurde auch gleich ein wenig traurig. In der Liebe sollte das Herz unbedingt eingeschaltet bleiben, selbst auf die Gefahr hin, dass es verletzt werden könnte.

Doch dann rief ich mich zur Ordnung. Was wusste ich denn schon? Vielleicht handelte es sich hier ja um zwei Chirurginnen, die neue Operationsmethoden diskutierten. Das war gar nicht so abwegig. Schliesslich war ich gerade in einem Ärztinnenhaushalt untergebracht, wo solche Gespräche an der Tagesordnung sind und selbst am Esstisch ungeniert weitergeführt werden.

Erst vor ein paar Tagen ging es da um die überwältigende Erfahrung, zum ersten Mal ein menschliches Organ in der Hand zu halten. «Ich habe vor Ergriffenheit geweint», erinnerte sich meine Freundin. Sie formte die Hände zu einer Schale, in der sie damals, vor langer Zeit, in einem Sezierraum ein Gehirn gehalten hatte. «Dieser unscheinbare kleine Ball, der den ganzen Menschen in sich birgt …»

«Und das Herz erst! So etwas Schönes habe ich noch nie gesehen!»

Ich nickte und dachte an Victors Herz, das sich wie durch ein Wunder erholt und sogar wieder zurückgebildet hat. Durch jahrelanges, zu schnelles und unregelmässiges Schlagen hatte es sich nämlich verhärtet und verdickt. Ich war der Meinung gewesen, diese Veränderung sei nicht mehr rückgängig zu machen. Doch offenbar ist selbst ein nicht mehr ganz junges Herz in der Lage, zu seiner ursprünglichen Form zurückzufinden. Etwas ähnlich Wundersames hat ja auch mein eigenes kleines Artischockenherz geleistet, das zwar keine medizinischen Schäden, dafür einige emotionale Wunden davongetragen hat. Auch mein Herz war einmal in Gefahr gewesen, sich nachhaltig zu verhärten. Und auch mein Herz hat sich wieder erholt, ist weich und offen geworden, hat eine neue Liebe zugelassen. Auch mein Herz schlägt wieder zuversichtlich und unverdrossen, wie neu.

Die Ärztinnen am Tisch waren sich einig: «Am schönsten ist das Herz, wenn es noch lebt.»

Das wollte ich den beiden Frauen unbedingt nachrufen: «Ja nicht ausschalten! Am schönsten ist das Herz, wenn es noch lebt!»

Doch da waren sie schon ausgestiegen.

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