Der dünne Mann in der altmodisch knappen Badehose hüpft unermüdlich vor mir im Sand auf und ab, auf und ab. Dazu rotiert er mit seinen Unterarmen, als würde er Wolle aufzwirbeln. «Das ist Chris», erklärt Barbara. «Er glaubt nicht an Badetücher.» «Okay», antworte ich unverbindlich. Tatsächlich wollte ich ihm gerade eines von meinen anbieten, ich hatte mindestens drei Tücher dabei, einen Bademantel und Fellstiefel.
Ich hatte es gerade wieder mal mit dem Schwimmen versucht, wie ich das seit Neujahr ab und zu tue, nicht so oft, wie ich möchte. Die ganzjährig eher garstigen Temperaturen schrecken mich dabei weniger als die unberechenbaren Strömungen und Wellen, denen immer wieder Schwimmer zum Opfer fallen. Deshalb habe ich heute den Aquatic Parc aufgesucht, eine befestigte Bucht am Ende der jetzt verwaisten Touristenmeile Fisherman's Wharf, wo das Wasser vergleichsweise glatt ist und es keine heimtückischen Strömungen gibt. Hier befinden sich auch gleich zwei traditionelle Schwimmclubs, die allerdings beide gerade keine neuen Mitglieder aufnehmen.
Aber macht nichts, das Wasser gehört schliesslich allen, der Strand auch. Und die Schwimmer sind überall offen und hilfsbereit, wie Barbara, die jeden Tag hierherkommt und die sich nach ihrem Schwumm im Schutz eines Holzzauns aufzuwärmen versucht. Sie bietet sofort an, meine mit Tüchern vollgestopfte Tasche zu hüten, während ich ins Wasser gehe. Lange halte ich es auch diesmal nicht aus, bevor ich schlotternd wieder am Ufer stehe, dankbar für meine Fellstiefel, meine Tücher und für Barbara, die mir fürsorglich den Rücken rubbelt.
Wir wechseln ein paar Worte, sie erkundigt sich nach meinem Akzent, und sobald er das Wort «Schweiz» hört, hört der dünne Mann auf, zu hüpfen und mit den Armen zu rotieren. Er spricht mich nacheinander auf Französisch und auf Hochdeutsch an, akzent- und fehlerfrei. Ich bin beeindruckt. Seine Frau sei Deutsche, erzählt er, doch Barbara winkt ungeduldig ab. «Erzähl ihr, was dir vor vier Jahren passiert ist», drängt sie. «Na komm schon, erzähl!»
Etwas verlegen schaut er zur Seite und murmelt etwas. Ein ... was? Ein Seelöwe habe ihn gebissen? Ich muss mich verhört haben, denke ich. Die dicken, sich faul auf den Holzflossen an der Wharf räkelnden Viecher sind eine Touristenattraktion, sie gehören zum Stadtbild. Dass sie gefährlich sein können, habe ich noch nie gehört. «Ich auch nicht, aber damals gab es mehrere Angriffe hintereinander, ich war nicht der Einzige. Man vermutete, es handle sich um ein einzelnes, besonders aggressives Tier. Das übrigens nur schwimmende Männer angriff ...»
Gute Geschichte, denke ich. Ob sie wahr ist oder nicht, finde ich ehrlich gesagt gar nicht so wichtig. Nicht nur, weil es mein Beruf ist, Geschichten zu erfinden. Wer auswandert, kann sich nicht mehr unbedingt auf die eigenen Vorstellungen davon, was realistisch, wahrscheinlich, möglich ist, verlassen. Erlebnisse und Erinnerungen, die meine amerikanischen Freundinnen als banal empfinden, wirken auf mich fantastisch wie Filmszenen.
Doch diesmal will ich es wissen. Kaum zu Hause, gebe ich «Seelöwenbiss» und «San Francisco» ins Suchfenster ein. Und da ist er auch schon. Chris. «Ich blieb eigentlich ganz gelassen», erklärt er vom Spital aus. «Weil ... ich war ja nicht tot.» Keine schlechte Grundhaltung, denke ich. Mit oder ohne Seelöwen. Bleiben wir gelassen, wir sind ja nicht tot.