Überall sonst auf der Welt würde man sagen, es regnet. Hier nennt man die Feuchtigkeit, die vom Himmel tropft, «nassen Nebel». Meine Freundin und ich tragen Daunenjacken, als wir uns zum Spaziergang treffen, die Kapuzen hochgeschlagen. Es ist Anfang Juli. Überall sonst ist Sommer. Aber wir beklagen uns nicht: So ist es nun mal in San Francisco. Für uns beginnt der Sommer dann, wenn die Schule wieder losgeht, wenn die Touristen weg sind und die Stadtstrände uns gehören. Im September also. Dann verzieht sich nämlich auch der Nebel.
Meine Freundin schiebt einen leeren Kinderwagen, ihr kleiner Sohn hält sich an der Seitenstrebe fest und stapft mit leichter Vorlage neben uns her. Immer wieder lässt er die Stütze los, stolpert ein paar Schritte voraus, springt in eine Pfütze, versucht einen zerrissenen, bunten Flyer vom nassen Asphalt zu klauben, einen Hund zu streicheln, gegen einen Baumstamm zu treten. Manchmal bleibt er so abrupt stehen, dass er gleich hinfällt, mal auf die Knie, mal auf den windelgepolsterten Hintern. Das bringt ihn aber nicht nachhaltig aus dem Konzept; wenn er kurz weint, dann mehr aus Empörung. Denn schon lockt das nächste Wunder: eine alte Standuhr in einem Schaufenster, eine offene Briefkastenklappe, eine bunt funkelnde Glasperle am Strassenrand. Für die zweihundert Meter brauchen wir fast zwanzig Minuten – und ich liebe jede einzelne davon. Fast fühle ich mich auch wie ein kleines Kind, für das jeder Schritt ein Abenteuer bedeutet, jedes Gartentor, jeder Briefkasten, jeder Nachbarshund.
Unser Ziel ist ein Café etwas weiter unten an der Strasse. So aufgeregt, wie ich bin, könnten wir auch nach Hawaii fliegen. Das Schreiben in Cafés hat mir mehr gefehlt als alles andere. Denn hier in San Francisco waren alle Lokale seit März letzten Jahres durchgehend geschlossen. Irgendwann durfte zwar draussen bedient werden, doch dafür mussten extra Konstruktionen mit Zwischenwänden und Wärmelampen auf dem Trottoir installiert werden, auf eigene Kosten selbstverständlich. Das konnten sich längst nicht alle Betreiber leisten; und als der Giftrauch der Waldbrände diesen ersten Aufwand nichtig machte, gaben viele auf. Aber nicht alle. Dieses gemütliche Nachbarschaftslokal hat überlebt. Die Angestellten grüssen meine Freundin mit Vornamen und stecken ihrem Sohn gleich ein Mandelbrötchen zu. Es dauert alles etwas länger, weil wir alle dasselbe Bedürfnis haben zu quatschen, uns auszutauschen. «Wie geht es dir, wie bist du über die Runden gekommen? Schön, dich zu sehen!»
Dann beginnt der Kleine zu quengeln, meine Freundin macht sich auf den Weg nach Hause. Sie schaut über die Schulter zurück und winkt. Ich weiss, dass sie mich ein bisschen beneidet. Um die Freiheit, jetzt einfach sitzen zu bleiben und Kaffee zu trinken. Den Laptop aufzuklappen, aus dem Fenster zu schauen, die Passanten zu beobachten, zu schreiben. So wie ich sie um die tausend Abenteuer am Wegrand beneide und um die kleine klebrige Hand in ihrer.
Ich bestelle einen Kräutermuffin mit einem gebackenen Ei und einen Kaffee mit einem Schuss Espresso. Übersetzt lautet meine Bestellung also: «Einen inneren Rebellen, bitte. Und einen Schuss ins Dunkle!» An diesem Morgen, an dem der Alltag wieder beginnt, ist selbst das Frühstück ein Gedicht.