Milena Moser über die Fragen junger Leserinnen und Leser
Was heisst schon normal?

Dass meine Bücher in Schulen gelesen werden, ist eine Ehre. Aber vor allem auch ein Vergnügen. In erster Linie wegen der Fragen, die mir dabei gestellt werden. Auch wenn ich längst nicht alle beantworten kann.
Publiziert: 18.10.2021 um 07:53 Uhr
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Aktualisiert: 10.11.2021 um 10:02 Uhr
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Milena Moser bekommt immer wieder spannende Fragen zugeschickt von jungen Leserinnen und Lesern.
Foto: Getty Images
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Milena MoserSchriftstellerin

Das ist Teil meiner Arbeit: Briefe lesen und beantworten. Ich bekomme viele Zuschriften, meist schöne, manchmal hässliche, ganz selten sogar bedrohliche. Doch fast am liebsten sind mir die Briefe von Jugendlichen, die meine Bücher in der Schule lesen (müssen). Nicht weil sie die freundlichsten wären, ganz im Gegenteil. Sondern weil sie kein Blatt vor den Mund nehmen. Erstaunlich viele lauten ungefähr so: «Liebe Frau Moser, ich muss für die Schule einen Vortrag über Ihr Buch halten. Leider kann ich im Internet keine Zusammenfassung finden. Wenn Sie mir deshalb kurz den Inhalt schildern würden? Was ist der zentrale Konflikt der Geschichte? Welches sind die wichtigsten Figuren?» Und, mein Favorit: «Welcher literarischen Periode würden Sie Ihr Werk zuordnen?»

Ich gebe zu, da werde ich dann schon ein bisschen streng. «Erst lesen, dann fragen», antworte ich. Aber wenn jemand ein Buch von mir gelesen hat und gezielte Fragen dazu stellt, dann antworte ich auch. Immer, und gerne. Nur leider meist nicht so, wie es von mir erwartet wird. Denn das Schreiben eines Buches und das Interpretieren desselben sind zwei so unterschiedliche Tätigkeiten, dass man fast sagen könnte, dass sie nicht viel miteinander zu tun haben. Während ich oft beeindruckt und auf eine irrationale Art stolz bin auf die subtilen Zusammenhänge, die da in meinen Zeilen entdeckt werden, kann ich sie kaum je erklären – weil sie mir nicht bewusst waren. Ich denke beim Schreiben herzlich wenig. Ich lasse mich treiben, ich folge den Figuren. Hat Irma ihren Ex-Freund, den Professor, nun umgebracht oder war es wirklich nur ein unglücklicher Unfall mit einem Bügeleisen? Ich weiss es nicht. Wirklich nicht! Manchmal denke ich ... und dann wieder ... Irma hat es mir jedenfalls nie klar gezeigt. Sonst hätte ich es beschrieben.

Meine Lieblingsfrage ist jedoch: «Frau Moser, warum kommen in Ihren Büchern keine normalen Menschen vor?»

Anfangs reagierte ich empört. Meine Figuren sind wie meine Kinder, ich ertrage es schlecht, wenn sie missverstanden oder kritisiert werden. Und ausserdem kommen sie mir durchaus normal vor. Meine Geschichten spiegeln schliesslich die Welt wider, so wie ich sie erlebe. Sie sind von Menschen bevölkert, die mir vertraut sind. Und deshalb fand ich es bald interessanter, nachzufragen. «Was heisst denn normal, was meint ihr damit?»

Darauf habe ich allerdings nie eine klare Antwort bekommen. Was normal ist, weiss offenbar niemand so genau.

«Okay, was ist an meinen Figuren nicht normal?»

«Naja, sie sind ...» Sie sind alt, jung, arbeitslos, alleinerziehend, berufstätig, geschieden, homosexuell, sie haben unheilbare Krankheiten und unerfüllte Wünsche, sind leidenschaftlich, loyal, einsam, zerstritten, unangepasst, randständig ... Da kommt ganz schön was zusammen. Diese Listen berühren mich seltsam. Ist das nicht die Achterbahn des Lebens? Stehen wir nicht alle manchmal am Rand und schauen den anderen zu? Ist das nicht ... normal? Meine Figuren sind perfekte, bunte Flickwerke aus widersprüchlichen Einzelteilen, wie wir alle, wie ich auch.

Wenn ich mir diese Aufzählung anhöre, scheint es mir kaum möglich, dass irgendjemand den Ansprüchen der Normalität genügen könnte. Wer ist schon so spiegelglatt, so ohne Sprung und Kratzer? Ich jedenfalls bestimmt nicht. Allerdings höre ich auch oft, mit einem leisen Unterton des Erstaunens, wenn man mich mal kennenlerne, sei ich ja eigentlich ganz normal.

Na also. Sag ich doch.

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