Vor kurzem musste ich unter grossem Zeitdruck ein ärztliches Attest vorweisen können. Warum, das tut im Moment nichts zur Sache (und nein, es hat nichts mit Covid zu tun). Ich telefonierte mich durch eine beunruhigend kurze Liste von dafür zugelassenen Ärzten, von denen keiner das Telefon abnahm. Erst die letzte auf der Liste, Frau Doktor X, konnte mir einen Termin geben. Dafür gleich am nächsten Morgen. Ich müsse 300 Dollar in Cash mitbringen. «Cash only», schärfte sie mir ein. Das Zeugnis würde mir in einem versiegelten Umschlag ausgehändigt, den ich aber auf keinen Fall öffnen dürfe. Ich kam mir schon vor wie in einem Spionagefilm und war am nächsten Morgen so nervös, dass ich mich viel zu früh auf den Weg machte. Die Adresse stellte sich als ein kleines katholisches Privatkrankenhaus heraus, was mich erst ein wenig beruhigte. Doch als ich mich am Eingang meldete, wurde mir beschieden, dass die Arztpraxen im vierten Stockwerk nichts mit der Klinik zu tun hätten. Das merkte ich, gleich als ich aus dem Lift trat. Alle Türen waren verschlossen, kein Mensch zu sehen. Eine handgeschriebene Notiz informierte mich, dass die Sprechstunde von Frau Doktor X um neun Uhr beginnen würde. Mein Termin war aber um Viertel vor. Wollte sie mich an ihren anderen Patientinnen vorbeischleusen? War das normal? Und wie spät war es überhaupt?
Das war der Moment, in dem ich feststellte, dass ich sowohl mein Smartphone als auch meine ebenso smarte Uhr zu Hause auf der Aufladestation liegen gelassen hatte. Meine Nervosität schlug in Panik um. Als wäre ich ohne diese Geräte nicht funktionsfähig. «Reiss dich zusammen, Moser», redete ich mir zu. Hatte ich nicht in der Eingangslobby eine Uhr gesehen? Zu nervös, um auf den Lift zu warten, stiess ich die schwere Tür zur Treppe auf. Ich kenne diese Hintertreppen in amerikanischen Krankenhäusern. Sie sind oft genug mein heimlicher Rückzugsort. Denn sie werden höchstens von gestressten Assistenzärzten benutzt, die keine Zeit haben, sich über weinende Angehörige zu wundern. Solange man ihnen nicht im Weg ist, hat man hier seine Ruhe.
Ich lief also ins Erdgeschoss hinunter und fand die Uhr. Ich hatte noch zehn Minuten bis zu meinem Termin. Als ich wieder im vierten Stock ankam, war ich schon etwas ausser Atem. Der Flur lag nach wie vor menschenleer vor mir, die Türen waren alle verschlossen. Vor der Praxis waren ein paar Stühle aufgereiht. Ich setzte mich auf einen, nur um gleich wieder aufzuspringen. Was sollte ich denn jetzt tun? Wie lange sollte ich hier warten? Und woher würde ich überhaupt wissen, wie lange «wie lange» war?
In solch existenziellen Krisen rufe ich normalerweise meinen Mann an. Er findet immer die richtigen Worte. Verzweifelt wünschte ich mir die Telefonkabinen meiner Jugend zurück. Aber das half natürlich auch nichts. Ich konnte mich nicht ablenken, nicht hektisch herumtelefonieren, nicht das Internet konsultieren. Was alles auch nichts geändert hätte. Trotzdem war ich der Verzweiflung nahe, und gleichzeitig wunderte ich mich ein wenig über meine Abhängigkeit von diesen Geräten, die mir bis zu diesem Moment nicht einmal bewusst gewesen war. Und dann ergab ich mich der Situation. Ich konnte nichts tun, also tat ich nichts. Ich atmete ein und ich atmete aus. Genau, was mir die Meditationsapp auf meinem Handy empfohlen hätte. Und was auch Victor immer sagt: «Manchmal ist das Beste, was du tun kannst – nichts.»