Als ich vor über zwanzig Jahren zum ersten Mal ein amerikanisches Thanksgiving erlebte, war ich gelinde gesagt erschüttert. Es begann mit einem Schultheater, in dem die Jüngeren, darunter mein Schweizer Sohn, als Pioniere, Truthähne und federgeschmückte Indigene verkleidet über die Bühne tanzten, Maiskolben und Wolldecken austauschten und sich gegenseitig umarmten. Ich war fassungslos: Man wusste doch, zum Beispiel aus dem Geschichtsunterricht, dass die Wolldecken mit Masern verseucht waren und dass die Pioniere die Eingeborenen auf grausamste Weise fast gänzlich ausgerottet hatten? Wie konnte man so etwas feiern?
Mit dieser Verstörung war ich damals allerdings recht allein. Und mit der Zeit habe ich mir abgewöhnt, den Anlass selbst zu hinterfragen, und mich an das Schöne gehalten, das Zusammensein, das gute Essen, das Ritual der Dankbarkeit.
Thanksgiving mit Victor ist allerdings meist ein Marathon von einer Feier zur anderen. Er hat nun mal viele Freunde und schlägt selten eine Einladung zum Essen aus. Dieses Jahr mussten wir uns umständehalber für eine entscheiden. «Laura wohnt näher, aber bei Linda gibt es immer Restenpakete ...» Der Umgang mit Resten sage viel über den Charakter der Gastgeber aus, meinte Victor. Trotzdem entschied er sich am Ende für die Einladung von Laura, die immer zwei Truthähne zubereitet und einen speziellen Quarkkuchen mit Granatapfelkernen serviert. Auch Freundschaft geht durch den Magen.
Doch als wir wie immer etwas verspätet und hungrig eintrafen, stand die Gastgeberin in der Küche und schlug Eier in eine Schüssel, ihr Mann baute einen Tisch zusammen, die erwachsenen Kinder schauten sich auf einem Laptop den Match an. Im Pyjama.
«Oh, haben wir dir das nicht gesagt? Das Essen ist erst morgen. Wir feiern dieses Jahr einen Tag später ...»
«Ähm, nein, habt ihr nicht ...»
Egal, wir waren ja unter Freunden, dachten wir. Wir würden beim Kochen helfen und eine improvisierte Mahlzeit teilen, denn irgendwas würden sie ja auch an diesem Abend essen, oder nicht? Doch bald wurde klar, dass wir nichts dergleichen zu erwarten hatten. Weder Resten noch sonst etwas. Das konnte uns immer noch nicht erschüttern. Wir haben schliesslich diverse Feier- und Geburtstage in Notaufnahmen und Spitalzimmern verbracht. Was war dagegen eine geplatzte Einladung?
Gar kein Problem, wir würden einfach chinesisch essen gehen. Das kannten wir beiden Einwanderer schliesslich aus einschlägigen amerikanischen Filmen: Wer an Feiertagen nirgendwo eingeladen ist, landet beim freundlichen Chinesen. Stellte sich heraus, dass das nur für Weihnachten gilt. An diesem Thanksgiving war tatsächlich alles geschlossen, bis auf die Lokale, die ein spezielles Festtagsmenü anboten, allerdings nur bei Vorreservation. Langsam spitzte sich die Lage zu. Ich werde nämlich absolut unausstehlich, wenn ich Hunger habe. Victor, der im Gegensatz zu mir echten Hunger kennt und dabei stoisch bleibt, überlegte kurz, doch noch zu Linda rauszufahren. Beim Gedanken an ihre liebevoll zusammengestellten Restenpakete kamen mir fast die Tränen. Doch dann fanden wir endlich eine offene Pizzeria, zu Hause öffneten wir eine Flasche Wein, die wir für einen besonderen Anlass aufbewahrt hatten. Der Abend war gerettet. Ich fand sogar, das sei ab jetzt unsere Thanksgiving-Tradition.
Doch über Gastfreundschaft und den Umgang mit Resten werde ich noch länger nachdenken.