Letzte Woche haben wir hier wieder Thanksgiving gefeiert, umständehalber im kleinen Rahmen. Ich war nicht in Feierstimmung. Ich war traurig. Denn eigentlich wäre ich jetzt in der Schweiz, wo mein Sohn und seine Freundin eine truthahnfreie Swissgiving-Feier mit allem Drum und Dran organisieren wollten. Ich hatte mich so darauf gefreut, nicht nur auf diesen Abend, auf die Reise überhaupt. Doch die Behörden haben mir wieder mal einen Strich durch die Rechnung gemacht, und so bin ich hier in San Francisco geblieben, wo immerhin die Sonne scheint.
Dankbar: Für die Sonne und den blauen Himmel. Für den Nebel, der sich im Gegensatz zu seinem mittelländischen Namensvetter immer schnell wieder auflöst. Für die wohltuende Wirkung des Lichts auf meine Seele.
Zu Thanksgiving gehört das Ritual, dass man erzählt, wofür man gerade besonders dankbar ist, der Reihe nach um den grossen Tisch herum, Kinder, Erwachsene, Freunde, Fremde. Manche sagen nur ein Wort, andere holen weit aus. Ich muss dieses Jahr länger überlegen. Mein Herz ist schwer, ich vermisse meine Kinder heftiger als sonst, meine Freundinnen und Freunde, meine Nichten und Neffen, Grossnichten und Grossneffen und, oh!, die Babys, die ich noch nicht mal im Arm halten konnte. Kürzlich träumte ich, dass das Fliegen abgeschafft worden sei und ich verzweifelt versuchte, eine Überfahrt auf einem Passagierschiff zu organisieren. Als ich aufwachte, war mein Gesicht nass vor Tränen.
Dankbar: Dass ich jemanden habe, dem ich so etwas erzählen kann. Der mich nicht auslacht, sondern tröstet und mich gleich auch von den Vorzügen der Schifffahrt überzeugt. Dankbar für diese unerhoffte späte Liebe, für all die geschenkten Tage und Wochen und Monate, von denen ich glaubte, sie stünden uns nicht zu.
Es ist ja nicht nur die abgesagte Reise. Dieses Jahr ist, sagen wir mal vorsichtig, nicht ganz so gelaufen, wie wir uns das vorgestellt haben. Und mit «uns» meine ich jetzt nicht nur meine kleine Welt und mich. Ich meine die grosse Welt, ich meine uns alle. Und trotzdem. Es gibt immer auch Dinge, die richtig sind, die gut sind. Kleine Dinge vielleicht, aber sie zählen.
Dankbar: Für unseren Eckladen, für die unermüdliche Besitzerfamilie, die ihn wieder zum Leben erweckt hat. Für den täglichen Schwatz, den Austausch von Rezepten, für das Quartiergefühl, das entsteht, wenn wir uns in kleinen Gruppen auf dem Trottoir versammeln und auf die Brotlieferung warten, die jeden Tag ein wenig später eintrifft. Und für den Geruch des frischen Brotes, wenn ich es dann noch warm nach Hause trage.
Dabei bin ich keineswegs von Natur aus positiv und optimistisch gestimmt. Ich neige viel eher dazu, mich in Gedanken und Gefühle zu verschrauben, sie bis zu ihrem bitteren oder absurden Ende zu verfolgen. Das ist eine gute Eigenschaft für eine Schriftstellerin, unverzichtbar vielleicht sogar.
Im täglichen Leben ist sie allerdings eher hinderlich.
Dankbar: Für die Fähigkeit, auch in meinem Alter noch ständig dazuzulernen. Dankbar für die Biegsamkeit meiner Gedanken, wenn auch nicht unbedingt meiner Gelenke.
Ich bestehe auf dem Glück. Immer schon. «Das ist das Erste, was mir an dir aufgefallen ist», sagt Victor. «Dieser unbändige Wunsch, glücklich zu sein.»
Dankbar: Für das Leben, das mir dieses Glück immer wieder vor die Füsse spült. Ich muss es nur aufheben.
Danke.