Milena Moser
Fremd unter Fremden

Fremd zu sein, macht einsam. Es hat aber auch Vorteile. In der Aussenseiterrolle liegt eine gewisse Freiheit. Doch um das zu erkennen, musste ich erst wirklich fremd sein. In der Fremde, ganz weit weg von zu Hause.
Publiziert: 17.01.2022 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 15.01.2022 um 14:26 Uhr
Die Schriftstellerin Milena Moser schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Im Februar erscheint ihr neues Buch «Mehr als ein Leben».
Milena Moser

Ich war drei oder vier Jahre alt, als ich sie zum ersten Mal bewusst erlebte, diese knochentiefe Einsamkeit des Fremdseins. Wir waren umgezogen, lebten an einem Ende einer wenig befahrenen Sackgasse, wo Kinder den ganzen Tag draussen spielen konnten. In meiner Erinnerung stehe ich auf dieser sonnenbeschienenen Strasse, umringt von Kindern unterschiedlichen Alters, die mich alle anstarrten, eine Art High Noon im Kindergarten. So war es natürlich nicht, aber so fühlte es sich an. Ich versuchte zu sprechen, doch ich konnte mich nicht verständlich machen. Ich sprach ihre Sprache nicht. Ich war fremd. Als sei ich von einer verwirrten Schicksalsmacht aus Versehen auf dem falschen Planeten abgeliefert worden.

Dieses Gefühl hat mich durch meine Kindheit und Jugend begleitet. Doch das war nicht nur schmerzlich: Es führte auch zu einem intensiven Interesse an anderen Menschen, zu einem Bedürfnis, sie zu beobachten und zu verstehen. Es führte zum Lesen und zum Schreiben. Mit der Zeit erkannte ich auch, dass die meisten Schreibenden dieses Gefühl des Fremdseins teilen.

Doch die grösste Erleichterung erlebte ich, als ich vor über zwanzig Jahren zum ersten Mal auswanderte. Denn plötzlich hatte dieses Lebensgefühl einen ganz banalen Grund: Ich fühlte mich fremd, weil ich fremd war. Das war nichts Persönliches, das war einfach eine Tatsache. «I'm from Switzerland!», war von da an meine Erklärung für alles. Alles, was ich nicht verstand, nicht einordnen konnte, alles, worauf ich nicht richtig reagierte, alles, was mich hätte komisch oder seltsam erscheinen lassen, wischte ich mit diesem Satz weg. «Switzerland» ruft mehrheitlich positive Reaktionen hervor, wofür ich nichts kann, wovon ich aber profitierte. Mein Fremdsein weckte Wohlwollen und Interesse. Ich versöhnte mich mit ihm, ich entspannte mich. Genug, um zu erkennen, dass ich damit keinesfalls allein war. Dass wir uns alle manchmal fremd und einzeln fühlen und dass dieses Anderssein nicht bis auf die Knochen geht, wie ich es als Kind empfunden hatte. Es macht sich weiter aussen fest. Darunter, unter dem Mantel des Fremdseins, wollen wir vermutlich alle dasselbe. Dazugehören, Teil einer Gemeinschaft sein, etwas beitragen. Angenommen und geliebt werden, so wie wir sind. Glücklich sein.

Je älter ich werde, desto leichter liegt dieser Mantel des Fremdseins auf meinen Schultern. Desto öfter geniesse ich auch seine Vorzüge. «Du bist so schräg», sagte neulich jemand zu mir und meinte es als Kompliment. Und als ich neulich in der endlos langen Schlange vor dem Medikamentenschalter im Drugstore stand, wurde ich ununterbrochen um Rat gefragt:

«Muss ich auch hier anstehen, wenn ich einen Termin habe?»

«Ist das die Schlange zum Impfen?»

«Wissen Sie, wie lange es noch dauert?»

Nachdem ich zum x-ten Mal: «Tut mir leid, ich weiss es auch nicht», geantwortet hatte, drehte ich mich um und wandte mich an die anderen Wartenden.

«Warum fragen eigentlich alle mich? Seh ich etwa aus, als wüsste ich mehr als ihr?»

Dankbar für die Ablenkung gaben die Umstehenden ihren Senf dazu:

«Na, weil Sie so gross sind!»

«Sie sehen halt freundlich aus, ansprechbar.»

«Weil Sie einen gestreiften Pulli tragen!»

«Einen gestreiften Pulli?» Ich musste lachen. «Dabei bin ich noch nicht mal von hier!»

«Stimmt, Sie haben einen Akzent.»

Das war mein Stichwort: «I'm from Switzerland!»

Damit war alles gesagt. Mit einem Ruck setzte sich die Schlange wieder in Bewegung.

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