Milena Moser
Immer wieder geht die Sonne auf

Es kann nur besser werden. Das neue Jahr, meine ich. Nur sagte ich das letztes Jahr schon, und glaubte es auch. Heute bin ich mir da weniger sicher. Doch, wie Udo Jürgens schon sagte: Dunkelheit für immer gibt es nicht.
Publiziert: 03.01.2022 um 15:07 Uhr
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Aktualisiert: 03.01.2022 um 15:19 Uhr
Die Schriftstellerin Milena Moser schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Im Februar erscheint ihr neues Buch «Mehr als ein Leben».
Foto: David Butow

Wenn man trauert, ist das erste Jahr das schwierigste. Der erste Geburtstag, das erste Weihnachtsfest, das erste neue Jahr ohne den geliebten Menschen sind die härtesten Meilensteine. Danach wird es einfacher. Oder so wird es wenigstens versprochen. Was aber, wenn wir nicht um einen Menschen trauern, sondern um eine Lebensform, um eine Realität, um eine Vorstellung? Mich persönlich hat das letzte Jahr mehr mitgenommen als das davor. Das neue Jahr 2021 begrüsste ich noch voller Zuversicht. «Es kann nur besser werden!», rief ich und hob das Glas. Für 2022 konnte ich nicht mehr dieselbe Begeisterung aufbringen. Ich nahm es eher schulterzuckend zur Kenntnis: Mal sehen, was aus dir wird ...

Doch dann fiel mir ein anderer Jahreswechsel ein, vor mehr als dreissig Jahren. Ich war Anfang zwanzig und lebte seit ein paar Monaten wieder bei meiner Mutter, was ich an sich schon etwas demütigend fand. Gleichzeitig war ich ihr natürlich dankbar, denn andere Möglichkeiten sah ich damals keine. Ich hatte ein Baby, aber keinen Mann mehr, ich hatte ein paar Aufträge, aber keinen wirklichen Job und also auch kein Geld. Diesen ersten Silvester würden wir allein verbringen, mein Baby und ich. Meine Mutter, die jünger war als ich heute, stellte mir eine Flasche Champagner aus ihrem Keller in den Kühlschrank und ging zu einer Party. Und zum ersten Mal freute ich mich nicht über den aussergewöhnlich guten Schlaf meines Sohnes. Es würde ein langer Abend werden.

Die herzerwärmende Erinnerung an einen Tiefpunkt

Ich schob ein Blech voller Tiefkühl-Aperitifgebäck in den Ofen, was für mich der Inbegriff von mondänem, urbanem Leben war. Ich fühlte mich ein wenig wie eine tragische Seifenopernheldin, als ich das Blech mit den Mini-Käseküchlein und Quiches Lorraines aus dem Ofen nahm und vergeblich versuchte, die Champagnerflasche zu öffnen. Im Fernsehen lief auch nichts, und ich war kurz davor, in Tränen auszubrechen oder mein Baby aufzuwecken. Doch dann klingelte es, und mein bester Freund stand vor der Tür. Er brachte ein frisch gebrochenes Herz, einen existenziellen Liebeskummer und einen Stapel alter Schlagerplatten mit. Immerhin wusste er, wie man Champagner entkorkt. Und so sassen wir nebeneinander auf dem Sofa, knabberten am salzigen Gebäck und nickten ergriffen, wenn Udo Jürgens sang. «Wenn ein Blatt, irgendein Blatt vom Baume fällt ...» Genau: Wir waren diese Blätter. Wir waren vom Baum gefallen. Und jedes Mal, wenn der Sänger durchaus glaubwürdig versicherte, dass es «Dunkelheit für immer» nicht gibt, dass im Gegenteil «immer, immer wieder die Sonne» aufgeht, dann hob mein Freund sein Glas und prostete mir zu: «Aber nicht für uns, Milena, nicht für uns!»

Wie gesagt, es war ein Tiefpunkt in meinem Leben. Im Nachhinein jedoch denke ich voller Rührung an diesen Abend zurück. Und wenn ich ihn mit anderen Silvesterpartys vergleiche, dann ist er mir sogar einer der liebsten. Weil er ehrlich war. Ohne Vorstellungen und Erwartungen. Nur zwei Menschen, die auf den Scherben ihrer Träume sassen und das auch wussten. Die das auch aussprechen konnten: «Mir gehts grad gar nicht gut.»

Immerhin war das möglich, immerhin waren wir nicht allein. So gesehen war es also nicht nur ein Tiefpunkt, sondern auch eine Bestätigung: Auch auf dem tiefsten Grund gibt es etwas, das einen hält. Eine Mutter. Ein Freund. Ein kitschiger Schlager. Ein schlafendes Baby.

Udo Jürgens sollte ausserdem recht behalten: Die Sonne ging auch für mich wieder auf.

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