Nicht unbedingt ein klassisches Geburtstagsthema. Nicht gerade glamourös. Es ist gar nicht so lange her, dass wir uns über ganz andere Dinge unterhalten haben. Über Männer zum Beispiel, die wir zu sehr oder zu wenig liebten oder die uns zu sehr oder zu wenig liebten. Über unsere Kinder, die zusammen zur Schule gegangen sind. Und sehr oft über Bücher – wir sind beide lesesüchtig, was unsere Freundschaft über die Jahre nur zementiert hat.
Vor der Pflegefrage müssten eigentlich erst noch ein paar andere Themen aktuell werden, Enkel zum Beispiel – und nein, das ist kein Wink mit dem Zaunpfahl! Ausserdem sind wir ziemlich gut beieinander. Weit davon entfernt, pflegebedürftig zu sein. Es ist vielmehr so, dass wir beide mindestens teilweise eine «betreuende Rolle» ausüben, wie es so schön heisst. Ich kümmere mich um Victor, wenn er das braucht, was in letzter Zeit eher selten der Fall ist (Holz anfassen!). Carmen kümmert sich an den Wochenenden um ihre Schwester, die an einer unheilbaren Nervenkrankheit leidet.
Obwohl wir von der Dauererschöpfung der Vollzeitbetreuenden weit entfernt sind, kommen auch wir manchmal an unsere Grenzen, vielleicht eher mental als körperlich. Und da ist es eine unendliche Erleichterung, nichts erklären zu müssen. Manchmal gar nichts zu sagen. Oder auch Dinge auszusprechen, die man sich selbst kaum eingesteht. Wie zum Beispiel diese Frage, die uns heute über die vom Champagner gelösten Lippen geht: «Und wenn mir was passiert? Was dann? Wer kümmert sich um mich?»
Wir wechseln Verbände, wir leeren Bettpfannen, wir werfen unsere Pläne über den Haufen, wir lassen unsere Arbeit liegen. Wir leben mit angehaltenem Atem, wir schauen über unsere Schultern. Wir tun das, ohne darüber nachzudenken, bis wir plötzlich mitten in der Bewegung erstarren, eingefroren in der bangen Frage: Gibt es jemanden, der dasselbe für mich tun würde? Und schütteln die Frage im selben Moment schon wieder ab. Sie ist uns peinlich. Wir schämen uns für sie: Was soll das, uns gehts doch gut! Wir gesund. Wir sollten lieber dankbar sein, als uns in düsteren Gedanken zu verlieren.
Doch dafür sind Freundinnen schliesslich da: um über genau die Dinge zu sprechen, über die man normalerweise nicht spricht. Die Gedanken zu teilen, die wir gar nicht denken wollen und die wir doch nicht vertreiben können. An diesem Abend wagen wir uns gleich noch ein Stück weiter. Könnten wir das überhaupt zulassen, fragen wir uns. Ist es am Ende vielleicht einfacher zu pflegen, als gepflegt zu werden? Passt uns diese Rolle, die uns das Schicksal zugespült hat besser, als wir zugeben möchten?
Was für mich ein Gedankenspiel ist, ist für Carmen viel konkreter: Die Krankheit ihrer Schwester ist vererbbar. Vier von insgesamt sieben Geschwistern sind betroffen, zwei weitere zeigen bereits Symptome. Die Familie ist Teil einer medizinischen Studie, die Forschungsabteilung begeistert, so grosse Cluster sind selten. Carmen selber findet das weniger aufregend. Schon gar nicht, während sie auf das Resultat ihres Gentests wartet.
«Meine Schwester kann sich die Schuhe nicht mehr selber anziehen», sagt sie. «Was ist, wenn ich ... Wer zieht mir mal die Schuhe an?»
«Ich», sage ich schnell. «Ich ziehe dir die Schuhe an.»
«Und ich dir», sagt sie. «Die Lahmen werden die Lahmen führen, oder wie geht das noch?» Wir müssen beide lachen. Wir schütten die letzten Tropfen aus der Champagnerflasche. Versprochen ist versprochen.