Milena Moser
Das Leben ist kein Sofa

Irgendwann hat man alle Hindernisse aus dem Weg geräumt, alle Prüfungen bestanden – man hat sich eingerichtet und organisiert. Und dann kann man sich endlich zurücklehnen, wie in einem bequemen Sofa. So stellte ich mir das jedenfalls vor.
Publiziert: 21.02.2022 um 09:28 Uhr
Milena Moser schreibt: «Das Leben ist kein Sofa, eher eine Achterbahn. Oder ein Wellenbad. Es bewegt sich.»
Foto: imago images/Fotostand
Milena Moser

Spätestens mit zwanzig, dachte ich. Mit zwanzig ist man schliesslich erwachsen, und das kann nichts anderes bedeuten, als dass man alle Zweifel überwunden und Sicherheit gewonnen hat. Mit zwanzig würde ich bestimmt wissen, wer ich bin und was ich will und wie man sich im Leben zurechtfindet. Ich würde keine Fehler mehr machen, keine Umwege gehen, über keine Steine stolpern. Mein Leben würde sich vor mir ausbreiten wie ein roter Teppich. Schnurgerade, ohne Falten und Flusen, ohne Beulen und Blätze.

Na gut, dann vielleicht mit fünfundzwanzig.

Mit dreissig?

Okay, fünfunddreissig ...??

Ungefähr in diesem Alter, zwischen dreissig und fünfunddreissig, begann ich die Wahrheit zu ahnen: Das Leben ist kein Sofa, eher eine Achterbahn. Oder ein Wellenbad. Es bewegt sich. Es ist nicht möglich, sich gemütlich zurückzulehnen, jedenfalls nicht auf Dauer. Und das ist auch gar nicht das Ziel. Als ich das akzeptierte, wurde es leichter. Jetzt wartete ich nicht mehr auf den Moment, in dem endlich alles gut wäre. Jetzt wollte ich das Leben umarmen, mit allem, was es zu bieten hat, Schönem und Schwerem. Es war auch ungefähr zu der Zeit, in der mir ein selbsternannter Guru vorwarf, ich hätte mich «offensichtlich entschieden, die volle Katastrophe des Lebens zu leben». Ohne auch nur einen Moment nachzudenken, schoss ich zurück: «Das volle Leben ist keine Katastrophe!» Es ist nur – voll, eben. Voll von allem.

«Das könnte ich nicht!», ist ein Satz, den ich oft höre. Auswandern, zum Beispiel. Mit über fünfzig in einem fremden Land noch einmal von vorn beginnen. Oder mit einem gesundheitlich gefährdeten Mann zusammenleben. Nun – ich kann es auch nicht immer. Es gibt durchaus Momente, in denen mir alles zu viel wird und ich mich unter einem grossen Möbelstück verkrieche und heule. Wenn Victor mich findet, legt er sich neben mich und hält meine Hand. Und nach einer Weile stehen wir wieder auf.

«Bereust du es denn?», werde ich oft gefragt, wenn ich gewisse, durchaus belastende Probleme in meiner Wahlheimat anspreche. Die Antwort ist nein. Natürlich wünschte ich mir, es wäre nicht ganz so schwierig. Aber so ist es nun einmal, ich bin eine Fremde in einem fremden Land, ich kann nicht dieselbe Sicherheit, dieselben Rechte erwarten, die ich zu Hause genossen habe.

Als ich mich zum Auswandern entschloss, ging ich nicht davon aus, dass dieses Abenteuer reibungslos, ohne Ängste und Verluste vonstattengehen würde. Aber ich bin nicht besonders mutig, wie mir oft nachgesagt wird – ich erwarte einfach keine Garantie vom Leben. Und es belohnt mich dafür, mit einem unbekannten Reichtum an Einsichten und unerwarteten Glücksmomenten. Zum Beispiel, als ich einmal meinen Geburtstag mit Victor in einem Krankenhauszimmer verbrachte. Das merkte ich allerdings erst, als die Pflegefachfrau der Morgenschicht das Datum auf die weisse Tafel neben der Tür schrieb.

«Heute ist mein Geburtstag», sagte ich, ein wenig erstaunt und auch, ich gebe es zu, ein klein wenig traurig. Doch dann setzte sich Victor die hässliche Abdeckhaube vom Frühstückstablett als Hut auf, klebte sich einen Pflasterschnurrbart an und brachte mich zum Lachen. Die Pflegefachfrau kam mit einem Cupcake und einer stimmstarken Kollegin zurück, die für mich sang. Die schönen und die schweren Momente sind sich oft sehr nahe, so nahe, dass sie miteinander verschmelzen.

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