Als ich in die Küche komme, schaut meine Freundin schuldbewusst von ihrem Laptop auf. «Ich bin wieder rückfällig geworden», sagt sie. Gestern hat sie mir noch erklärt, dass sie ihren Nachrichtenkonsum wieder radikal einschränken wolle. Sie könne nicht ununterbrochen von neuen Gräueltaten hören, über die Situation in der Ukraine nachdenken, über das ungewisse Schicksal der Menschen, die dort leben, über die verlorenen Leben, über das Blut, über die Scherben. Es frisst sie auf. Es frisst uns auf.
Wir sitzen an ihrem Küchentisch und trinken die dritte Tasse Kaffee. Vor uns liegen aufgeschlagen die Tageszeitungen. Ich ertappe mich dabei, dass ich sie wie ein Kind mit der flachen Hand von der Tischplatte fegen möchte. Als könnte ich das aktuelle Geschehen damit ungeschehen machen. Ich bin, im Gegensatz zu meiner Freundin, eher die, die in solchen Situationen die Decke über den Kopf zieht und die Dunkelheit umarmt. Auch das hilft niemanden. Aber was würde denn helfen? Mein Profilbild in sämtlichen sozialen Medien mit der ukrainischen Flagge schmücken? Hashtag I stand with Ukraine?
Ich komme mir blöd vor, wenn ich meiner Erschütterung, meiner Fassungslosigkeit Ausdruck gebe. Ich denke und fühle nichts anderes als Millionen andere auf aller Welt auch. Ich habe nichts von Bedeutung beizutragen. Und selbst wenn: Gescheite Sätze sind das Letzte, was die Menschen jetzt brauchen. Ich kann nichts machen. Und das ist es: Diese Machtlosigkeit ist nicht auszuhalten. Das Leiden mitanzusehen und es nicht lindern, geschweige denn verhindern zu können.
Meine Freundin faltet die Zeitungen zusammen und legt sie zum Altpapier. Die Schreckensnachrichten stapeln sich dreissig Zentimeter hoch. Aus den Kopfhörern, die neben ihrem Laptop liegen, dringen bereits neue Hiobsbotschaften. Ich mache mir noch einen Kaffee, nicht weil ich ihn brauche, nur um diese Stimmen zu übertönen.
Am Vortag war ich zu einem Radiogespräch in Deutschland eingeladen. «Wir können natürlich nicht über die Ukraine reden», warnte der Redaktor. Man wisse ja nicht, wann das Interview ausgestrahlt würde. Was heute brandaktuell ist, ist in einem Monat überholt. Trotz seiner Warnung kam der Radiojournalist in jeder Gesprächspause auf den Krieg zu sprechen. Er war, wie meine Freundin, bis in die Nervenspitzen davon besessen.
«Ist die Ukraine überhaupt ein Thema in den USA?», fragte er mich. Natürlich ist sie das. Aber die geografische Nähe zum Geschehen macht schon noch mal einen Unterschied. Die Betroffenheit ist hier direkter, intensiver, weniger theoretisch. Das merkte ich am Abend meiner Ankunft, als sich die meisten meiner Zürcher Freunde auf dem Münsterhof in Zürich versammelten. Ich war zu müde – und ich schämte mich deswegen. Was, wenn alle zu Hause bleiben würden, die müde sind? Heisst es nicht, schreckliche Dinge geschehen, wenn gute Menschen nichts tun? Bin ich überhaupt ein guter Mensch? Und was tut das zur Sache? Es geht hier nicht um mich.
So drehen und drehen wir uns in unseren Gedankenspiralen. Wir füllen Einzahlungsscheine aus und unterschreiben Petitionen und Briefe. Wir trinken noch einen Kaffee. Wir schliessen die Augen und öffnen sie wieder, und sie sind voller Tränen.