Zu den vielen Dingen, die ich von Victor gelernt habe, gehört auch dies: Bevor man irgendein Amt, eine Behörde oder eben eine Arztpraxis besucht, zieht man sich schön an. «Man wird einfach besser behandelt», erklärt er mir. Bevor ich ihn kannte, war das kein Thema. Ich genoss im Gegenteil die nachlässige Formlosigkeit, mit der ich mich in San Francisco bewegen konnte, die Tatsache, dass Yogahosen und Flipflops eigentlich überall «gut genug» sind, wenn nicht sogar die Norm.
Ich habe früher auch nie meinen Fahrausweis eingesteckt, wenn ich zu Fuss unterwegs war. «Du musst dich jederzeit ausweisen können», schärft Victor mir ein, auch wenn ich nur zum Laden an der Ecke gehe. «Gerade als Ausländerin!» Das ist so. Doch natürlich werde ich als weisse, europäische Ausländerin sehr viel seltener kontrolliert als er, genau genommen ist mir das noch nie passiert.
Es presst mir jedesmal das Herz zusammen, wenn er sich für die einfachsten Gänge sorgfältig ein Hemd bügelt. Und ich habe mich ihm angepasst. Erst einmal aus Solidarität, weil ich den Unterschied in der Art, wie wir beide behandelt werden, nicht noch zusätzlich betonen will. (Nebenbei bemerkt, auch das habe ich in den letzten Jahren gelernt: Nicht genau zu wissen, was «weisses Privileg» im Einzelnen bedeutet, ist ein sicheres Anzeichen dafür, dass man es geniesst. Es ist eigentlich die Definition davon.)
Wenn es um Arztbesuche geht, war ich aber von Anfang an voll dabei. Schliesslich hat mir schon meine Mutter eingeschärft, immer anständige Unterwäsche zu tragen, für den Fall, dass ich in der Notaufnahme lande. Auch das ist mir deutlich weniger oft passiert als Victor. Als ich ihn kennenlernte, packte er für jeden Arzttermin sicherheitshalber Zahnbürste und Skizzenbuch ein. Er war es gewohnt, gleich ein paar Tage bleiben zu müssen. Irgendetwas fanden die Ärzte damals immer. Ich erinnere mich an den Tag, an dem die Transplantationsärztin zum ersten Mal sagte: «Alles gut. Ich sehe Sie in sechs Monaten wieder.» In sechs Monaten? Das kam einem Lottogewinn gleich. Wir gingen ins Kino, schauten uns zwei Filme hintereinander an, assen überteuerte, aber köstliche Hipster-Hotdogs und fuhren schliesslich ans Meer, um die Sonne untergehen zu sehen.
Seither feiern wir jeden Arzttermin, egal, was dabei herauskommt, ob wir gute oder schlechte Nachrichten bekommen. Und wir putzen uns auch jedes Mal dafür heraus. Es versetzt mich tatsächlich in eine bessere Stimmung, wenn ich meine selten getragenen Kleider aus dem Schrank ziehe, eines nach dem anderen anprobiere, als hätte ich eine aufregende Verabredung. Statt über den bevorstehenden Termin reden wir darüber, welche Ausstellungen wir unbedingt sehen wollen, ob das Riesenrad im Park noch in Betrieb ist, welches unserer Lieblingslokale an dem Tag geschlossen hat und wo wir stattdessen hingehen könnten.
Essen gehen gehört zwingend dazu: Wir müssen unsere Energievorräte wieder auffüllen. Denn egal, wie die Termine verlaufen, sie schlauchen. Aber wir haben etwas, worauf wir uns freuen. Wir sitzen in unseren Sonntagskleidern im Wartezimmer und schauen aus dem Fenster. Von hier aus können wir den Kupferturm des Museums sehen, die Brücke, den Park. Und das Riesenrad, das sich kaum zu bewegen scheint. Aber es dreht sich.