Milena Moser
Das Gegenteil von Small Talk

Small Talk konnte ich noch nie. Nicht, weil ich dagegen bin, ich scheine nur kein Gefühl dafür zu haben, was angemessene, unverfängliche Themen sind. Damit ecke ich erstaunlicherweise in Amerika viel weniger an.
Publiziert: 20.06.2022 um 10:16 Uhr
Die Schriftstellerin Milena Moser schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Im Februar erschien ihr neues Buch «Mehr als ein Leben».
Foto: Barak Shrama Photography

Dass die Leute in Amerika oberflächlicher seien als anderswo, höre ich oft. Es entspricht allerdings nicht meiner Erfahrung, eher im Gegenteil. Ich erlebe sie als erstaunlich offen, als mitteilungsbedürftig und vor allen Dingen freundlich.

Das macht den Austausch von vornherein einfacher. Hier führe ich oft, auch in ganz alltäglichen Situationen, erstaunlich tiefgründige Gespräche mit Leuten, die ich vielleicht nie wieder sehen werde. Vielleicht ist es das, was meine Schweizer Bekannten irritiert: Dass eine tiefer gehende Diskussion nicht zwingend zu einer verbindlichen Freundschaft führt?

Ich denke oft darüber nach, woher diese Offenheit kommt. Vielleicht liegt es daran, dass Amerikaner gezwungenermassen oft umziehen, immer wieder von vorn beginnen, in ihrem riesigen Land oft Tausende von Kilometern von ihren Familien und Jugendfreunden entfernt leben?

Besonders intensiv erlebte ich das auf einer viertägigen Zugreise von Los Angeles nach Chicago. Zu jeder Mahlzeit wurden wir mit einer neuen Gruppe Mitreisender zusammen an den Tisch gesetzt. Wir redeten über Politik und gesundheitliche Katastrophen – eine Mitreisende hatte einen Schlaganfall erlitten, Victor erzählte, wie er sich damals nach einem wochenlangen Koma wieder erholte, wir teilten innige Momente des Verstehens und klare Meinungsverschiedenheiten. Eine junge Frau erzählte uns von ihrem ersten Liebeskummer, ein alter Mann zeigte ein Foto seiner Urenkelin. All diese Menschen habe ich nie mehr wieder gesehen, und doch denke ich oft an sie. Sie haben mir mehr über dieses Land beigebracht als jede Studie.

Vergangene Woche sass ich mit meiner Freundin Theresa an einem wackligen Metalltischchen vor einem Teller Austern. Wir stiessen mit «Bubbly» an, und ich erzählte von meiner Reise in die Schweiz. Dann holte mich der Jetlag ein. Unsere Flasche war noch halb voll. Theresa schaute sich um. Am Nebentisch sassen zwei jüngere Frauen, die gerade einen zweiten Teller mit Austern bestellt hatten. Ihre Gläser waren leer. Theresa stand auf und trat an ihren Tisch. «Mögt ihr noch?», fragte sie und bot ihnen unsere angebrochene Flasche an. «Wir schaffens heute nicht mehr ...» Fasziniert schaute ich zu. Nach drei Wochen in der Schweiz war mir dieses Verhalten schon wieder fremd geworden – und, ich gebe es zu, ein bisschen peinlich. Das macht man doch nicht!

Die beiden Frauen lachten ein wenig verlegen. «Wir treffen uns einmal im Monat hier an unserem kinderfreien Abend», erzählten sie. Sie hatten sich auf der Entbindungsstation kennengelernt, ihre Kinder waren sechs Stunden nacheinander geboren. Elf Jahre und mehrere Umzüge später sind sie immer noch befreundet, die Mütter sowieso, die Kinder auch.

Theresa erzählte, dass auch wir uns über unsere Kinder kennengelernt haben, vor etwa dreiundzwanzig Jahren. Und dass wir nach Jahren wieder in derselben Stadt leben, sogar im selben Quartier. Und dann setzten wir uns zu ihnen und teilten den Rest aus unserer Flasche. Ich erzählte diesen beiden Frauen, die ich kaum kannte, wie sehr ich meine Söhne vermisse und dass ich jedes Mal, wenn Theresas Sohn zu Besuch kommt, ein bisschen auch meinen jüngeren Sohn in den Arm nehme. Eine der jungen Frauen drückte mitfühlend meinen Arm. Wir redeten, bis die Flasche leer war und ich das Gähnen nicht länger unterdrücken konnte. Zum Abschied umarmten wir uns, und vielleicht sehen wir uns wieder, vielleicht auch nicht.

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