Milena Moser
Wie sehen Diebe aus?

Vor meinen amerikanischen Freunden gebe ich unablässig mit der Sauberkeit, Pünktlichkeit und Sicherheit unserer öffentlichen Verkehrsmittel an. Doch auch in der Schweiz kann sich eine einfache Zugfahrt zum Abenteuer entwickeln.
Publiziert: 06.06.2022 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 04.06.2022 um 15:15 Uhr
Die Schriftstellerin Milena Moser schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Im Februar erschien ihr neues Buch «Mehr als ein Leben».
Foto: Barak Shrama Photography
Milena Moser

Ich liebe die öffentlichen Verkehrsmittel in der Schweiz. Obwohl ich den grössten Teil meines Lebens hier verbracht habe, verfalle ich wie jede andere Touristin auch in Verzückung: Alles so sauber hier! Und die schönen Polster! Werden die jedes Jahr erneuert? Es gibt einen Fahrplan! Und er wird auch eingehalten!

Deshalb war ich schon etwas irritiert, als ich mich vor ein paar Wochen zu einer längeren Zugfahrt aufmachte. Es war während dieser unverhofften Hitzewelle, es war also heiss, aber die Klimaanlage funktionierte nicht, die Fenster liessen sich nicht öffnen, und die Toiletten waren auch verschlossen, und zwar gleich in zwei aufeinanderfolgenden Wagen. Das brachte mich persönlich noch nicht aus der Fassung, ich bin mir aus San Francisco (wohlgemerkt einer der teuersten Städte der Welt) viel Schlimmeres gewohnt.

Was mich erschreckte, war die gereizte Stimmung im Wagen. Zwei elegante Damen stauchten die Zugbegleiterin in derart wüsten Worten zusammen, dass ich versucht war, mir die Ohren zuzuhalten. Unwillkürlich wechselte ich einen Blick mit dem Vater im Nebenabteil. Seine kleine Tochter hörte sich gerade eine Geschichte an, sie hatte knallpinke Kopfhörer aufgesetzt. Auch gut, dachte ich. Fluchen lernt sie noch früh genug.

Die Zugbegleiterin liess die Beschimpfungen bewundernswert gelassen über sich ergehen und wies schliesslich auf funktionierende Toiletten am anderen Zugende hin. Wutschnaubend verliessen die Damen das Abteil, und es wurde ruhig. Die Hitze legte sich wie ein Teppich über den Zugwagen, die Reisenden fächelten sich mit ihren Zeitschriften Kühlung zu und beschränkten ihre Unterhaltungen auf ein Minimum. Ich beobachtete das kleine Mädchen, das nun die Kopfhörer abgestreift hatte und eine Banane ass. Artig faltete es die Schale zusammen und stopfte sie in den Papierkorb. Meine Kinder hatten sich früher nie so gut benommen, dachte ich.

Da hielt der Zug plötzlich an, auf offener Strecke und nicht im Schatten. Die Lautsprecheranlage begann zu knistern, und die Stimme der Zugbegleiterin erklang. «Achtung, Achtung», warnte sie. «Es sind Taschendiebe zugestiegen. Ich wiederhole: Es befinden sich Diebe im Zug!» Unwillkürlich packten wir alle unsere Taschen und schauten verunsichert im Abteil herum. «Papa, wie sehen Diebe aus?», fragte das Mädchen in die Stille.

Und ich erinnerte mich an eine Zugfahrt in Oakland vor einigen Jahren. Ich sass allein in einem Abteil, als eine Gruppe junger Männer zustieg. Sie waren laut und wirkten nicht ganz nüchtern, trugen Goldketten und verspiegelte Sonnenbrillen, sie sahen also genau so aus, wie ich mir Gangster vorstellte. Oder Musiker. Oder beides. Breitbeinig drapierten sie sich auf die leeren Sitzbänke, Musik dröhnte aus ihren Handys, ich versuchte, mich unsichtbar zu machen.

Plötzlich sprang einer auf und polterte an die Verbindungstür zum nächsten Wagen. «Hey!», brüllte er. «Was fällt dir ein, es ist eine Lady im Zug!» Eine Lady? Meinte er mich? Es stellte sich heraus, dass ein vermutlich auch nicht ganz nüchterner Mann den Absatz zwischen den beiden Zugwagen mit einer Toilette verwechselt hatte. «Sorry, Ma'am», sagte der vermeintliche Gangster zu mir. «So was sollte eine Lady nicht sehen müssen.»

Wie sehen Diebe aus? Und wie Gentlemen?

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