Milena Moser
Zwei Welten

Wer in zwei Welten lebt wie ich, muss viel aushalten können. Auswandern ist selbst unter den privilegiertesten Umständen eine Herausforderung. Aber auch eine unglaubliche Bereicherung – und eine Lebensschule.
Publiziert: 13.06.2022 um 14:21 Uhr
Die Schriftstellerin Milena Moser schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Im Februar erschien ihr neues Buch «Mehr als ein Leben».
Foto: Barak Shrama Photography
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Milena MoserSchriftstellerin

«Das könnte ich nicht», höre ich oft. «So könnte ich nicht leben!» Daraufhin antworte ich dann meist mit einem Schulterzucken und einem unverbindlichen «Musst du ja auch nicht». Ich finde es nämlich durchaus auch nicht immer einfach. Vor allem nicht jetzt, wo wieder ein Aufenthalt zu Ende geht und wieder einmal eine Reihe von Abschieden ansteht. Dabei hasse ich Abschiede. Immer schon. Weil ich sie kaum ertrage: Gefühle brechen über mich herein wie ein Sommergewitter, ich versuche vergebens, ihnen auszuweichen. Ich spiele sie herunter, erlaube mir nur eine flüchtige Umarmung, ein beiläufiges «Bis bald». Und dann verschwinde ich ganz schnell, bevor jemand meine Tränen sieht.

Am Flughafenschalter werde ich gefragt, ob ich in die Fremde fliege oder nach Hause zurück. Beides trifft zu: Ich bin an zwei Orten zu Hause, ich lebe in zwei Welten. Meist empfinde ich das als Gewinn. In zwei Welten zu leben heisst, sich in unterschiedlichen Realitäten zurechtfinden zu müssen, mit veränderten Umständen umgehen zu können. Oder, wie wir kalifornischen Althippies gerne sagen: Go with the flow!

Vor etwa fünfundzwanzig Jahren wanderten wir zum ersten Mal aus, damals als Familie. Die ersten Wochen vergingen im Flug, die Nachbarsfamilie nahm uns unter ihre Fittiche, zeigte uns die besten Nachbarschaftsbeizen und Spielplätze, wir machten Ausflüge, probierten exotische Gerichte und gewöhnten uns an den Sommernebel. Jeder Tag war ein Abenteuer. Aber nun würde der Ernst des Lebens beginnen, mit anderen Worten der Alltag: die Schule. Mein älterer Sohn würde in einem fremden Land, in einer fremden Sprache die fünfte Klasse beginnen. «Er spricht nicht so gut Englisch», versuchte ich seiner Lehrerin zu erklären, einer pragmatischen, wenn auch etwas erschöpft wirkenden Frau.

«Niemand spricht Englisch», sagte sie nur. Nur gerade ein Mädchen in seiner Klasse war in Amerika geboren, die anderen zwanzig Schüler und sechs Schülerinnen waren Einwanderer der ersten Generation, aus verschiedenen Kulturen. In ordentlichen Reihen warteten sie, bis die Lehrerin in ihre Trillerpfeife blies, dann marschierten sie ins Schulhaus.

Mein Sohn schaute über die Schulter zu mir zurück. Diesen Blick werde ich nie vergessen.

Die nächsten vier Stunden verbrachte ich damit, sinnlos dieselben Krümel auf dem Frühstückstisch zusammenzuwischen und aus dem Fenster zu schauen. Die Schule war so nahe, dass ich die Pausenglocke hören konnte. Ich kämpfte gegen die Versuchung an, die Strasse hinunterzugehen und über das Mäuerchen zu spähen.

Was hatte ich getan? Was hatte ich meinen Kindern zugemutet?

Und dann kam er nach Hause. Erfüllt, verwirrt, überfordert, begeistert, alles zusammen. Und da war etwas Neues in seiner Haltung. Ein Selbstbewusstsein, das ganz einfach aus dieser Erfahrung kam, dass er es geschafft hatte. Er hatte sich in einer fremden Umgebung, in der er auf nichts Vertrautes zurückgreifen konnte, zurechtgefunden. Diese Erfahrung kommt ihm, kommt uns allen immer wieder zugute.

Was nicht heisst, dass es immer einfach war – oder ist. Aber welches Leben ist das schon? Und so nehme ich tapfer wieder Abschied. «Bis bald», sage ich. «Bis zum nächsten Mal.» Und schon bin ich wieder weg ...

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