Letzte Woche feierte Victor nicht nur seinen Geburtstag, sondern auch den Abschluss einer eher brutalen Behandlung. Je besser er sich fühlte, desto mehr Leute lud er ein. Der ursprünglich geplante, kleine Rahmen war schnell gesprengt, am Ende wusste er selbst nicht mehr, wer kommen würde. Eigentlich mag ich gerade das an unseren Partys: dass sie immer aus allen Nähten platzen. Dass im letzten Moment noch mehr oder weniger zufällig Eingeladene dazustossen, der Briefträger, die medizinische Assistentin der Augenklinik, ein alter Freund, der sich zufällig nach Jahren des Schweigens wieder meldete.
Doch jetzt lag ich nachts wach und versuchte auszurechnen, ob der Kuchen auch gross genug war, sodass jeder mindestens ein Stück bekommen würde. Ob ich genug Essen eingeplant, eingekauft, vorbereitet, vorgekocht hatte. Und was ich tun würde, wenn nicht. Spaghetti kochen geht immer, beruhigte ich mich. Manche der schönsten Momente in meinem Leben sind mit mitternächtlicher Notfallpasta verknüpft. Und doch: Die Vorstellung, dass jemand hungrig von meinem Tisch aufstehen könnte, ist mir unerträglich. Woher kommt das? Vielleicht von meiner Grossmutter väterlicherseits, die gemäss Familienlegende überall herumerzählte, sie sei bei meiner Mutter «hungrig vom Tisch gegangen». Allerdings nicht, weil meine Mutter zu wenig gekocht hätte, das tat sie nie. Sie war eine wunderbare Köchin und eine grosszügige Gastgeberin. Aber sie fragte immer nur einmal, ob man noch mehr wolle. Meine Grossmutter hingegen war es gewohnt, dreimal gefragt zu werden und die ersten beiden Male damenhaft abzulehnen, nur um sich dann scheinbar zögerlich doch noch zu einem Nachschlag überreden zu lassen. Meine Mutter wusste das nicht, sie nahm das erste Nein schon ernst und räumte den Tisch ab.
Tatsächlich habe ich das auch schon erlebt, dass ich eine Einladung zum Abendessen mit knurrendem Magen verliess und mir dann auf dem Heimweg irgendwo noch eine Wurst kaufen musste. Unweigerlich habe ich dadurch jeden Respekt vor den Gastgebern verloren. Vor allem, weil es sich dabei ausschliesslich um wohlhabende und kultivierte Menschen handelte, die erst noch ausführlich erklärten, was sie gekocht hatten und warum, woher die Zutaten stammten und was sie gekostet hatten. Es war auch immer exquisit – nur nicht genug.
Victor kennt diese Sorgen nicht. Er führte immer ein offenes Haus. In Mexiko hatte er weder fliessendes Wasser noch Elektrizität und so wenig Geld, dass sein Wocheneinkauf oft aus Haferflocken und Zwiebeln bestand, aus welchen er aber offenbar recht schmackhafte Gerichte zubereiten konnte. Und da der blaue Ur-Mais, den er anpflanzte und der in der Gemeinschaftsmühle gemahlen wurde, das Mehl aller beteiligten Bauern bereicherte, buken ihm die dankbaren Nachbarinnen täglich frische Tortillas. Das kleine Haus war immer voller Gäste, die seine Regeln kannten: Du musst etwas zu trinken mitbringen, und du musst deinen Teller gleich wieder abwaschen. Essen gab es immer genug, aber Geschirr nicht.
«Mach dir keine Sorgen», sagt Victor. «Ich hab noch Masa im Tiefkühler. Wenn alle Stricke reissen, mach ich Tortillas.»
«Und ich Spaghetti.»
Es war nicht nötig. Es war genug da. Es ist immer genug da.