Milena Moser
Wie ich realisierte, was Ferien sind

Hier sitze ich wieder mal in einem der Warteräume für Angehörige in der Uniklinik – keine Sorge, nichts Schlimmes diesmal – und denke über meine Ferien nach, und das, was Ferien überhaupt bedeuten und was genau ihren Erholungsfaktor bestimmt.
Publiziert: 22.08.2022 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 20.08.2022 um 15:09 Uhr
Die Schriftstellerin Milena Moser schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Im Februar erschien ihr neues Buch «Mehr als ein Leben».
Foto: Barak Shrama Photography
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Milena MoserSchriftstellerin

Was sind Ferien? Nein, ich versuche nicht, Lady Violet aus «Downtown Abbey» nachzuahmen («what is a weekend?»), ich war nur fast mein ganzes Berufsleben lang selbständig erwerbend. Bezahlte Ferien habe ich zuletzt während meiner Lehrzeit genossen. Und so behaupte ich seit Jahren, ich mache keine Ferien, ich verreise einfach. Und die Arbeit reist immer mit. Umgekehrt mache ich meine Arbeit so gerne, dass ich oft den ganz banalen Alltag als äusserst beglückend empfinde. Ich weiss durchaus, wie gut ich's habe!

Doch die Woche, die ich Anfang des Monats bei meinen Freunden in Maine verbrachte, war so entspannend, dass ich ein ums andere Mal ausrief: «Ich fühle mich wie in den Ferien! Ach, ist das toll! Ich bin in den Ferien!»

Was war anders? Was machte diese Woche so entspannend?

Es war ja nicht so, dass wir tagelang am Strand rumlagen und uns bunte Drinks mit Sonnenschirmdekorationen bringen liessen. Es war Sommer, es war heiss. Ich schlief auf einem Futon unter Pauls Klavier, und nachts rauschte mich ein geradezu hypnotisierender alter Ventilator in den Schlaf. Ich nahm einfach am normalen Alltag meiner Freunde teil, die zufällig an einem geradezu unwirklich schönen Ort leben.

«Weil du dir keine Sorgen um mich machen musst», vermutete Victor, als wir telefonierten. Als ob ich die Sorgen um ihn einfach so abstellen könnte! Aber seine Bemerkung gab mir zu denken. Es ist schon etwas anderes, wenn ich ihn nicht ständig sehe, mich nicht ständig frage, ob er erschöpft wirkt, ob er ausser Atem ist und ob er nicht mal was essen müsste. (Ja, damit treibe ich ihn regelmässig an den Rand des Wahnsinns.)

Das Leben mit einem gesundheitlich angeschlagenen Menschen hat bei allen Herausforderungen auch eine beinahe verführerische Komponente: Es bietet sozusagen einen eingebauten Inhalt, einen tieferen Sinn an. Plötzlich muss ich mich nicht mehr fragen, was ich will und soll und überhaupt. Es ist ganz einfach: Ich bin für den geliebten Menschen da. Ich kümmere mich um ihn, ich versuche, ihn zu beschützen, ich kämpfe für ihn. Alles andere verschwimmt im Hintergrund. So ungern ich das eingestehe, ich habe diese Versuchung zu Beginn unserer Beziehung durchaus gespürt. Doch Victor spürte sie auch und zog eine klare Grenze: «Untersteh dich, mich zu missbrauchen», sagte er streng. «Du musst dein Leben leben, deine Antworten suchen, dein Ding durchziehen. Du darfst mich nicht als Ausrede benutzen, das nicht zu tun!»

Missbrauchen, benutzen: harte Worte. Da musste ich schon mal leer schlucken. Aber er hatte recht. Und so schreibe ich und mache Lesereisen, fliege regelmässig in die Schweiz und neuerdings sogar in die Ferien.

Am dritten Morgen in Maine tappte ich verschlafen in die Küche, machte mir einen Kaffee und setzte mich zu Daphne, die bereits ein Kreuzworträtsel gelöst hatte. «Und, was machen wir heute?», fragte ich, und dann wusste ich, was es war. Das Geheimnis meiner Tiefenentspannung, die Erklärung für mein Feriengefühl: Ich musste nicht eine einzige Entscheidung treffen. Nichts denken, nichts planen, nichts überlegen. Das ist der grösste Luxus überhaupt, das grosszügigste Geschenk.

«Du nimmst mir das Denken ab, Daphne!», sagte ich. Und ich versprach, mich bei Gelegenheit zu revanchieren.

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