Milena Moser
Das unerledigte Leben

Hier sitze ich, in unserem verwilderten Garten und schaue zum Haus hinüber. Im milden Nachmittagslicht wirkt alles geradezu idyllisch, die halbverblühten Rosen, die Katzen, die nach Insekten haschen. Und einen Moment lang vergesse, was ich eigentlich tun wollte.
Publiziert: 12.09.2022 um 11:00 Uhr
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Aktualisiert: 11.09.2022 um 11:54 Uhr
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Milena MoserSchriftstellerin

Wollte ich die Rosen schneiden, die Hecke stutzen, das Unkraut jäten, die Gartenstühle abwaschen? Die Liste der unerledigten Dinge wächst täglich. Sie wächst mir über den Kopf. Ich denke an meinen alten Freund Jack, der jeden Abend gnadenlos alle unerledigten Ärbetli auf den nächsten Tag übertrug, in seiner druckreifen Ingenieurs-Handschrift. «Warum quälst du dich so?», hatte ich ihn einmal gefragt, ich weiss nicht mehr wann. Zu einer Zeit, in der ich selbst noch keine Listen führte. Zu einer Zeit, als mich das Erledigen noch nicht zu erledigen drohte.

«Wie, euer neuer Herd funktioniert immer noch nicht?», fragt mich eine Freundin entgeistert. «Das ist doch jetzt Monate her ...» Als ob ich das nicht wüsste. Eine andere will wissen, ob sich der Gipser, den sie mir empfohlen hat, bewährt habe. «Ähhhmmm ...» Einen Moment lang weiss ich nicht mal, wovon sie redet. Irgendwie hab ich mich dran gewöhnt, dass eine Ecke der Decke im Atelier unverkleidet ist, dass man die nackten Latten sehen kann, wo die Gipsverschalung runtergekracht ist. Wann war das, letztes Jahr? Vor Ausbruch der Pandemie?

Immerhin habe ich letzte Woche den Schrank entrümpelt, geputzt und aufgeräumt. Eines Morgens hatten wir alle Kleider auf dem Boden vorgefunden, in einem wüsten Haufen. Die Kleiderstange war eingebrochen, vermutlich nachdem sich eine gewisse dicke weisse Katze daran hochgehangelt hatte, wovon ein Teppich aus weissen Katzenhaaren zeugte. Die Kleider lagen gar nicht mal so lange auf dem Boden herum. Ich war ziemlich stolz auf mich. Aber für alles reicht es nun mal nicht.

Wenn man immer wieder von gesundheitlichen Herausforderungen eingeholt wird, immer wieder halbe Tage in Wartezimmern verbringt, von Arztpraxis zu Klinik pendelt, neue Behandlungen über sich ergehen lassen und sich auch wieder von ihnen erholen muss, dann bleibt vieles liegen. Im übertragenen, aber durchaus auch im wörtlichen Sinn. Man konzentriert sich auf das Wesentliche, das Überwinden der akuten Krise. Alles andere tritt in den Hintergrund. Wenn Freunde in solchen Momenten Hilfe anbieten, kommt es uns nicht in den Sinn, zu sagen: «Kannst du mal dem Elektriker Beine machen, einen Gipser organisieren, den Garten auf Vordermann und das Auto in den Service bringen?» Nicht, weil sie es nicht tun würden: Wir vergessen es, es ist nicht wichtig genug. Und wenn die Krise vorerst überwunden ist, dann sind diese Erledigungsschulden halt auch nicht das Erste, woran wir denken.

Victor setzt seine ganze Kraft für seine Arbeit ein. Seine Arbeit erhält ihn am Leben, sie gibt ihm Hoffnung und eine Perspektive, sie ist ein Grund, immer wieder aufzustehen. «Ich bin noch nicht fertig», sagt er. Die Energie, die er hat, wenn er sie hat, fliesst in seine Kunst. Es wäre ein Verbrechen, sie für eine Erledigungsliste zu verwenden. Und ich? Ich bin so weit gesund, und ich tue, was ich kann. Aber ich bin auch nur ein Mensch.

Und so sitze ich im Garten und geniesse die kühle Brise, die von der Bay heraufweht und die Rosenköpfe schüttelt. Ich lache über die Katze, die von einer Libelle ausgetrickst wird, und über das Nachbarsmädchen, das seinen Eltern auf der anderen Seite des Zauns erklärt, warum Eis ein gesundes Abendessen ist. Das ist mein Leben, denke ich, in seiner ganzen unerledigten Schönheit.

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