Vincenzo hat ein schönes Herz. Er hört anderen Menschen zu, versucht sich in sie hineinzufühlen, auch wenn sie nicht nett zu ihm sind. Und er geht Streit aus dem Weg. Trotzdem wird der 16-Jährige immer wieder angepöbelt, angespuckt – und geschlagen. Weil er nicht den gängigen Normen entspricht. Er mag manikürte Fingernägel, liebt bauchfreie Tops und hat ein Faible für Strasssteinchen. Vincenzo ist homosexuell.
Im Februar bekam er deshalb Probleme. Mit einem Jugendlichen, der zu jener Masse gehört, die am Wochenende aus Langeweile aus der Agglomeration ans Zürcher Seebecken fahren. Erst wollte der Jugendliche mit Vincenzo ein Selfie-Video machen – Vinc, wie ihn Freunde nennen, ist ein Social-Media-Influencer, mit Zehntausenden von Followern. Dann berührte Vincenzo ihn zufällig an der Schulter – und der andere wurde aggressiv, beleidigte ihn, kickte irgendwann auf Vincenzos Kumpel ein, und weil dieser sich für seinen Freund wehrte, schlug der Angreifer ihm mit der Faust ins Gesicht. Vincenzo erstattete Anzeige, der Fall landete in den Medien.
Heute ist Vincenzo einfach nur froh. «Eine Faust ist nicht das Schlimmste, andere der Jungs dort haben ein Messer dabei», sagt er, als wir ihn zum ersten Mal zu Hause in einer Zürcher Vorortgemeinde besuchen. Der Wohnort und sein Nachname bleiben hier anonym, genauso wie die genauen Angaben aller anderen betroffenen Jugendlichen in dieser Geschichte. Zu ihrem Schutz.
Nach dem Vorfall taucht auf Tiktok ein Video über Homophobie in Zürich auf. Jugendliche filmten sich bei einer Strassenumfrage selbst. im Video meldet sich der Angreifer vom Februar – anonym. Er habe Vincenzo «kaputt geschlagen» und droht ihm mit weiteren Schlägen. Und drei weitere Jungs verherrlichen darin Gewalt gegen Homosexuelle allgemein.
Gewalt: Mitten unter uns
Die Attacke im Februar sowie die Tiktok-Drohungen sind Ausdruck einer Gewaltbereitschaft, die unter den Jungen zunimmt. Vor einem Monat zeigten das Recherchen des SonntagsBlick. Eine Gewaltbereitschaft, die sich besonders an jungen LGBTs – an Homosexuellen, Transmenschen, an Queers – entlädt. Seit Januar hat die Stadtpolizei Zürich rund ein Dutzend Fälle von Hassdelikten gegen Homosexuelle registriert.
Angriffe, die mitten unter uns geschehen. Mitten im aufgeschlossenen Zürich. In der Schweiz. Eigentlich steuert unser Land auf eine gesellschaftliche Öffnung zu. Die Ehe für alle befürworten laut Befragungen über 80 Prozent, seit Juli 2020 steht die Homosexuellen-Diskriminierung unter Strafe. Gleichzeitig sind die Ergebnisse einer letztjährigen Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) ziemlich ernüchternd: Für rund zehn Prozent aller Erwachsenen in der Schweiz ist Homosexualiät unmoralisch.
Woher kommt diese Ablehnung, dieser Hass auf Homosexuelle, auf Transmenschen? Wer sind die Täter? Und wo findet man sie? Gespräche mit sieben Betroffenen, zwei Queer-Vereinen und einer Sozialarbeiterin lassen keinen Zweifel: Die Prügelattacke auf Vincenzo und seine Freunde im Februar ist kein Einzelfall. Sie ist ein Extremfall unter vielen Fällen von Diskriminierung. Im ganzen Land.
Wir treffen Vincenzo in Zürich am See wieder, an einem regnerischen Samstagnachmittag, der Tatort in Sichtweite. Er hat seine Freunde mitgebracht: Rey, eine Transfrau, sowie Amadou und Lindi, zwei homosexuelle Jungs. Vincenzo weiss noch nicht, ob er trans ist, «er» passt für ihn. Sie sind zwischen 16 und 17 Jahre alt, aus verschiedenen Kantonen. Sie alle eint die Diskriminierungserfahrung. Zusammen ertragen sie sie besser.
«Du bist behindert»
Am stärksten trifft es Vincenzo und Rey. Vor allem seit der Corona-Krise. Bei Vincenzo fing die Veränderung mit dem Lockdown an – in der schulfreien Zeit. Er zog enge Tops an, machte sich die Nägel, das Make-up. «Zu Hause gab es keine Schüler, die mich hätten runtermachen können», sagt er. Dann starb auch noch sein Vater im Juni, ab da ging er auch in «Girly-Kleidern» aus dem Haus. Plötzlich war ihm egal, was andere denken. «Ich wollte einfach mich selbst sein.»
Rey sagt: «Ich habe mich schon immer als Frau gefühlt.» Behielt das aber für sich, guckte sich bei anderen männliches Verhalten ab, setzte sich breitbeinig hin. Selbstschutz. «In der Schule machten die Jungs auch so schon ständig ‹Schwuchtel›-Sprüche.» Seit einem halben Jahr geht sie mit Hair-Extensions und Stöckelschuhe einkaufen.
Die optische Veränderung der beiden ist auf Tiktok dokumentiert. Die beiden laden seit einem Jahr Videos auf ihre Accounts hoch. Fröhliche, aber auch ernste, wenn sie über ihre Diskriminierungserfahrungen sprechen. Sie treffen einen Nerv bei den Jugendlichen, haben über 30’000 Follower. Sie sind Tiktok-Stars. Wo sie auftauchen, bildet sich eine Traube von Fans um sie. Die Popularität hat aber eine dunkle Kehrseite: Sie sind zur Zielscheibe geworden. «Ich höre ständig: Du bist ein Typ. Du wirst niemals eine Frau sein. Du musst zum Psychiater. Du bist behindert», sagt Rey. Sie blickt zu Vincenzo, der sagt: «Ich bin glücklich, wenn jemand nur Schwuchtel zu mir sagt.»
Erfahrungen, die auch unbekannte LGBTs machen – wie ihre Freunde Amadou und Lindi. Amadou war jener Kumpel, der vom Angreifer im Februar gekickt wurde. Er sagt: «Wir müssen ständig aufpassen, wo wir in den Ausgang gehen, selbst wo wir aus dem Zug aussteigen.»
Oder Jugendliche wie Sam, 16 Jahre alt, non-binär – heisst: Sam fühlt sich weder eindeutig als Frau noch als Mann, mag aber weibliche Kleidung. In der Oberstufe in Winterthur erlebte er deshalb Mobbing. Er musste mit den Jungs den nach Geschlechtern getrennten Sportunterricht besuchen. «Das war ein Albtraum.» Und ständig klauten Jungs aus der Parallelklasse seine Kleider und Schuhe aus der Umkleidekabine. «Ich habs der Lehrerin gesagt. Mehr als einen Zusammenschiss gabs aber nicht.»
Am See in Zürich kommt Lindi ins Grübeln. «Es hat sich bestimmt jeder von uns schon mal gefragt: Ist es all die Verletzungen wert? Lohnt es sich wirklich, sich so anzuziehen, wie man will, sich selbst zu sein? Ich verstehe, wenn jemand findet: Nein. Und sich nicht outet.»
Macho-Täter aus der Agglo
Rey, Vincenzo, Amadou, Lindi und Sam – alle sagen, die Täter seien immer die Gleichen. Immer Jungs. Meistens aus der Agglomeration. Meistens mit Migrationshintergrund – wie sie selber auch. Warum brennen gerade bei diesen Jungs die Sicherungen durch, wenn sie feminine Schwule oder eine Rey sehen?
Rey sieht es so: «In ihren Augen ziehen wir die Männlichkeit in den Dreck.»
Fragt man Pascal Pajic, hat sie einen Punkt. Er setzte sich mit dem Warum auseinander. Gezwungenermassen. Er hat Balkan-Wurzeln, ist non-binär und schwul. Der 27-Jährige ist Teil eines Dokumentarfilms über Queerfeindlichkeit, den SRF im April ausstrahlte. Auch weil ihm sein Outing so schwerfiel. Für seine Eltern war es ein Schock. Im Dok-Film sagt der Vater: «Für mich war es wie eine schlimme Krankheit. Ich dachte, jemand hätte ihn vergewaltigt, das Schwulsein sei von der Gewalt.» Er glaubte, seinen Sohn nicht beschützt zu haben. Ähnlich dachten Pascal Pajics Freunde über Homosexualität. Heute denken sie alle anders, ein Lernprozess.
Pajic sagt nun dem SonntagsBlick Magazin, er stelle bei «migrantischen Kiddies tendenziell eine Queerfeindlichkeit» fest. Aber: «Sie fallen nicht so vom Himmel.»
Der Medizinstudent holt aus: «Gerade junge Leute mit Migrationshintergrund fühlen sich oft weder im Land ihrer Eltern noch hier richtig daheim. Sie machen rassistische Ausgrenzungserfahrungen, wenn der Lehrer ihnen sagt, dass sie sowieso auf der Baustelle landen. Und so klammern sie sich an das Einzige, was sie haben: ihre Männlichkeit. Und fühlen: Ich bin nicht der allerletzte Sauhund. Ich bin ein richtiger Mann. Ich bin etwas wert. Wenn nun jemand kommt und feminin ist und auch noch schwul, dann stellt das ihr ganzes Bild von Männlichkeit, ihre Identität in Frage. Dann werden sie aggressiv.»
Der Hass auf LGBTs beschränkt sich nicht auf irgendein migrantisches Milieu. Wahr ist: Queerfeindlichkeit durchdringt die ganze Schweiz, alle Schichten. Das bekommt allen voran Pink Cross zu spüren, der Dachverband der schwulen und bisexuellen Männer. Bei ihm geht pro Woche mindestens eine Meldung ein. Ein Drittel der Anrufer und Anruferinnen haben Gewalt erlebt, erlitten Gehirnerschütterungen, Prellungen, Brüche. Der Geschäftsleiter Roman Heggli (30) sagt: «Die Anfeindungen nehmen zu.» Doch traut sich nur jeder und jede fünfte Betroffene Anzeige zu erstatten.
Diese Zunahme hat mir der wachsenden Sichtbarkeit zu tun. Transmenschen und Homosexuelle zeigen sich mehr, auf der Strasse oder im Netz, wie Vincenzo und Rey. Das führe zu einer Gegenbewegung, sagt Heggli. «Gewisse Konservative fühlen sich provoziert und wissen sich nur mit Gewalt zu wehren.»
Konservativ – das findet man nicht am Zürcher Seebecken, sondern eher auf einem Traktor in Schwyz, Uri und Appenzell Innerrhoden. Als einzige lehnten diese drei Kantone letztes Jahr das Diskriminierungsverbot für Homosexuelle ab. Wir sprechen mit Jan aus einer kleinen Gemeinde im Schwyzer Talkessel, eine Autostunde von Zürich entfernt. Sein richtiger Name darf nicht in der Zeitung stehen. Jan erlebte keine Schläge, er erfuhr eine sehr ländliche Art von Diskriminierung: Mobbing auf dem Dorf. Über Jahre.
Der Auslöser war ein Zeitungsbericht, in dem ihn ein Bekannter versehentlich outete. Die Reaktionen im Dorf folgten prompt. Zuerst im Sportunterricht: Schulkollegen weigerten sich, mit ihm die Umkleidekabine zu teilen. «Sie hatten Angst, dass ich etwas probieren würde», sagt Jan. Später kursierte im Dorf ein wüstes Gerücht nach dem anderen. Das haarsträubendste: Er habe Aids. Auch Freunde wendeten sich von ihm ab. Und alle schauten zu, auch die Lehrer. Oder machten mit. «Ich weiss von Eltern, die ihren Kindern sogar noch Ideen für Bosheiten lieferten.» Die letzte Episode der Mobbing-Serie ist ein halbes Jahr her: In einer Meldung im Dorf-Newsletter wurde insinuiert, er habe einen Account auf der Pornoseite «Onlyfans», wo man Material von sich hochlädt.
Jan ist mittlerweile weggezogen. Den Kontakt zum Dorf hat er fast ganz abgebrochen. Alleine das Busfahren sei schwierig gewesen. «Ich hatte Angst.»
Rey und Vincenzo als Hoffnungsträger
Rey, Vincenzo, Lindi, Amadou, Sam und Jan müssen als Teenager mit Dingen fertig werden, die selbst Erwachsene überfordern würden. Viele junge LGBTs macht das psychisch krank – und einige lebensmüde. Wie sehr zeigt eine grosse länderübergreifende Studie, die 2018 in der Fachzeitschrift «JAMA Pediatrics» erschien: Das Suizidrisiko bei jugendlichen Schwulen und Lesben ist rund dreimal und bei Transgender sogar rund sechsmal so hoch wie bei heterosexuellen Jugendlichen. Zahlen für die Schweiz erhebt nun die Hochschule Luzern online mit einer LGBT-Gesundheitsbefragung.
Jugendgewalt und Diskriminierung von LGBTs
All diese Jugendliche lässt die Politik im Stich. Das sieht man am Umgang mit sogenannten Hate-Crimes – Hassdelikte gegen LGBTs oder gegen religiöse Minderheiten. Interessenverbände wie Pink Cross sowie Vertreterinnen und Vertreter von Links- und Mitteparteien fordern schon lange, dass Hate-Crimes in allen Kantonen einheitlich erfasst werden. Der Ständerat lehnte letztes Jahr einen Vorstoss ab. Einige Kantonsparlamente sprachen sich zwar dafür aus, aber nur der Kanton Freiburg und die Stadt Zürich erfassen diese Fälle schon heute, wie die «NZZ» jüngst schrieb. Und die einzige Hotline im Land, die «LGBT+ Helpline», finanziert Pink Cross aus seinem Sack, durch Spendengelder.
Die Angriffe und die Untätigkeit machen wütend. Rey macht ihrem Ärger auf Tiktok Luft. «Ich bin kein Witz, und das sollen alle wissen. Man muss nicht mögen, dass ich trans bin, aber ich will respektiert werden. Punkt.» Auch Vincenzo reichts: «Ich verstecke mich nicht, nur weil mich ein paar Bratans verfolgen.» Bratan, Russisch für Bruder, wie sich die Jungs aus der Agglomeration gerne nennen – in Anlehnung an den Gangster-Rapper Capital Bra.
Die Tiktok-Stars Rey und Vincenzo sind für junge LGBTs Vorbilder. Und sie lehren einer ganzen nachrückenden Generation, was schiefläuft, was besser laufen sollte. Sie sind Teil einer wachsenden Queer-Bewegung, die sich wehrt, für mehr Rechte kämpft. Diese mutigen LGBTs brauchen wir. Weil wir anderen zu feige sind.
Das englische Akronym wird mittlerweile oft verwendet. Es steht für: Lesbian (lesbisch), Gay (schwul), Bisexual (bisexuell), Transgender (trans). Manchmal wird auch von LGBTIQ gesprochen, dort stehen die letzten beiden Buchstaben für Intersex (intergeschlechtliche, nicht eindeutig einem der beiden Geschlechter zuzuordnen) und Queer (von der Norm abweichend).
Das englische Akronym wird mittlerweile oft verwendet. Es steht für: Lesbian (lesbisch), Gay (schwul), Bisexual (bisexuell), Transgender (trans). Manchmal wird auch von LGBTIQ gesprochen, dort stehen die letzten beiden Buchstaben für Intersex (intergeschlechtliche, nicht eindeutig einem der beiden Geschlechter zuzuordnen) und Queer (von der Norm abweichend).
Die Dargebotene Hand:
Anonyme Beratung unter Einhaltung der Schweigepflicht.
Per Telefon 143 und Online www.143.ch.
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