Die Bilder gingen durchs Land: Pyros brannten, Container gingen in Flammen auf, über den Köpfen kreiste ein Polizeihelikopter. Am Karfreitagabend war das sonst so beschauliche St. Gallen nicht mehr wiederzuerkennen. Am Ostersonntag fahren schon wieder über 600 Jugendliche in die Ostschweiz. Diesmal würgt die Polizei die Krawallparty schon am Bahnhof ab. Wir sprechen vor Ort mit den Teenagern, die es in die Stadt schaffen. Sie schleichen jetzt in Grüppchen um den Roten Platz herum, in der Hoffnung, «dass es heute doch noch knallt», wie ein 16-Jähriger sagt. Wie eine Trophäe präsentiert er uns sein Gummischrot-Mal auf dem Oberschenkel. Alle berichten Ähnliches: Sie haben «keinen Bock» in «SG» zu randalieren. Ein 17-Jähriger, an seiner Halskette baumelt eine Mini-AK47 mit Strasssteinchen, sagt: «Ich will ein bisschen Fun.» Ein anderer: «Alte, das am Freitag war Krieg: Behinderte gegen Bullen!» Er wolle heute eigentlich wieder nur zuschauen, wie «behinderte Leute eskalieren».
Für diese Kids waren die Tumulte am Karfreitag ein Boost, der sie angefixt hat.
Für den Rest der Schweiz fühlt es sich an wie ein schlechter Traum. Man reibt sich die Augen, fragt sich: Was ist bloss los mit den Jungen?
Wir suchten nach Antworten, sprachen mit Delinquenzforschern, Jugendanwälten, Jugendpsychiatern und Polizeisprechern. Und haben erfahren: St. Gallen ist kein Ausreisser. St. Gallen ist der vorläufige Höhepunkt einer Entwicklung, die sich schon länger anbahnt. Eine Entwicklung hin zu einer Gewaltkultur der Jugend. Und Corona ist der Brandbeschleuniger für dieses Mottfeuer.
Gewaltbereitschaft steigt
Dirk Baier ist Kriminologe an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Sein Bericht mit einer Auswertung der aktuellen polizeilichen Kriminalstatistik liegt dem SonntagsBlick exklusiv vor, er zeigt: Seit 2015 hat die Jugendkriminalität um ein Drittel zugenommen. Schweizweit. Über fast alle Delikte. Am meisten bei Raubüberfall – um 146 Prozent, mit 497 Beschuldigten im Jahr 2020. Und bei der Beteiligung an körperlichen Angriffen – um 122 Prozent, mit 353 Beschuldigten im Jahr 2020. Bei einfachen Körperverletzungen (mit 599 Beschuldigten im Jahr 2020), Drohungen und Gewalt gegen Beamte (mit 210 Beschuldigten im Jahr 2020) um mindestens die Hälfte.
Betroffen sind auch Regionen abseits der grossen Zentren. Die Solothurner Jugendanwaltschaft warnt im aktuellen Geschäftsbericht von einer «steigenden Tendenz» im Bereich «Drohung, Nötigungen und dem Tragen von Waffen wie Schlagringen, federunterstützten Klappmessern oder von Waffenimitaten».
Wenn hier von Gewalt die Rede ist, muss betont werden: Die allermeisten Jugendlichen in der Schweiz haben kein Gewaltproblem. Und doch: Dirk Baier macht die Zunahme bei Raubüberfällen Sorgen. Er sagt: «Das spricht für eine gestiegene Gewaltbereitschaft unter männlichen Jugendlichen.» Seine Auswertungen zeigen: Bei Schweizer Jungs hat das kriminelle Verhalten stärker zugenommen als bei jenen mit Migrationshintergrund. Bei Letzteren ist die Kriminalitätsrate aber insgesamt höher.
Allein im Pandemiejahr manifestieren sich die Zahlen in brutalen Zwischenfällen. Hier nur einige Beispiele:
Im Juli stechen zwei 15-Jährige und ein 19-Jähriger bei einem Streit einen 19-Jährigen am Zürcher Seebecken nieder.
Im August prügeln sich zehn junge Männer in der Basler Steinenvorstadt so heftig, dass einer schwer verletzt ins Spital muss.
Im September und Oktober geht eine lose Bande von 14 Jugendlichen in der Stadt Bern insgesamt neun Mal auf Raubtour. Darunter sogar 14-Jährige.
Vor zwei Monaten schlug eine Gruppe Jugendlicher zwei andere wegen ihrer Homosexualität und Transpersönlichkeit beim Zürcher Opernhaus zusammen.
Und jetzt die Krawalle in St. Gallen. 21 Jugendliche nahm die Polizei fest. Der Sachschaden: 50’000 Franken.
Corona-Langeweile führt zu Gewalt
Die Gewaltexzesse wecken Erinnerungen. Ende der Nullerjahre erfasste die Schweiz schon einmal eine Jugendgewaltwelle. Ab 2009 folgten deshalb konkrete Massnahmen: Man baute die Schulsozialarbeit aus, lancierte Präventionskampagnen, Strafbehörden arbeiteten stärker mit den Schulen und der Polizei zusammen. Und: Die Balkan-Jugend integrierte sich. Man hatte das Problem im Griff. Doch seit sechs Jahren nimmt es wieder zu. Und seit St. Gallen kann es niemand mehr ignorieren.
St. Gallen zeigt, was eine gewaltbereite Minderheit anrichten kann, wenn sie auf eine Masse von Kids trifft, denen «zu Hause langweilig» ist. Langeweile war ein starker Treiber, das zeigen unsere Gespräche am Ostersonntag vor Ort. Langeweile setzt toxische Kräfte frei, die die Jungen selbst nicht kontrollieren können. Mediale Aufrufe wie «Reisst euch zusammen» nützen da wenig.
Langeweile kann Teenager zu Tätern machen. So wie die 14 Jugendlichen in Bern. Der zuständige Jugendanwalt Ronald Lips sagt: «Manchmal überfielen sie gleich zwei Mal am gleichen Abend jemanden.»
Aus einer ähnlichen Dynamik heraus töteten vor 20 Jahren Gymnasiasten in Darmstadt (D) drei Menschen. Sie warfen Steine von einer Autobahnbrücke, erst kleine, dann immer grössere. Der Kinder- und Jugendpsychiater Helmut Remschmidt begutachtete die Jungs damals. Er sagt heute: «Die hatten das Prickelnde im Auge und haben ganz unberücksichtigt gelassen, dass das zur Tötung führen kann. Das waren keine Kriminellen.»
Revival eines Männlichkeitskults
St. Gallen, Zürich, Basel, Bern – durch diese Vorfälle verstärkt die Pandemie gerade eine Entwicklung hin zu einer Gewaltkultur unter den Jungen. Diese Gewaltkultur hat mit der «Krise des Mannes» zu tun, sagt Kriminologe Dirk Baier. Die klassischen Rollenbilder zerfallen, was einen Mann zu einem Mann macht, ist unklar. Aber gerade diese Frage beschäftigt Heranwachsende. «Einige sind verunsichert und versuchen, sich mit einer übertriebenen Männlichkeit, mit Gehabe aufzuwerten.» Das führe zu einem «Revival eines antiquierten Männlichkeitsideals unter den Jugendlichen».
Einen Tag nach den St. Galler Krawallen, am Ostersamstagabend, taucht unsere Reporterin in die Masse beim Zürcher Bahnhof Stadelhofen und dem See ein. «Ich gange Stadi», ist in der Corona-Zeit zum Codewort geworden. «Stadi» ist Szene. «Stadi» ist die Welt der «Bro’s» in Trainerhosen mit perfekt rasierten Undercut-Frisuren, die jedem zweiten Satz ein «vallah» anhängen – «ich schwöre» auf Arabisch. «Stadi» ist die Welt der Kids aus Zürich und dem Rostgürtel, Schwamendingen, Altstetten, Dietikon, Schlieren – die auf ihre Vorort-Herkunft stolz sind. So stolz, dass sie sich in losen Gangs zusammenschliessen.
Aus einer dieser Vorstädte stammt Danjel (18). Sein Name ist ein Pseudonym – was er uns erzählt, kann ihn in Schwierigkeiten bringen. Danjel ist KV-Stift, wie einige seiner Kumpels, mit denen er hier ist. Einer von ihnen sagt: «Beim Stadi suchen viele Stress, um sich einen Namen zu machen.» Er sagt über Danjel: Er lasse sich nicht provozieren, er sei intelligent. Danjel stört sich an den Leuten hier, die «alles vollmüllen», denkt an die Gemeindearbeiter, die den Dreck morgen einsammeln müssen. Er sagt: «Kiffen ist Dummheit», Drogen sowieso, das wisse man ja seit dem Platzspitz in den 80ern. Der gleiche Danjel war vor zwei Monaten in eine Gang-Geschichte verwickelt. Weil ein Freund ihn dazugeholt hatte.
Ein Kid aus der einen Zürcher Agglo-Stadt hatte die Jungs aus der anderen «Pussies» genannt, dann flogen die Fäuste. «Ein faires eins gegen eins», sagt Danjel. Bis einer der Jungs einen Revolver zog und auf ihn und andere richtete.
Danjel, du hattest sicher Angst.
Danjel: Ich hatte keinen Schiss. Wenn du eine Waffe ziehst, dann musst du schiessen. Entweder in die Luft, auf den Boden oder auf den anderen. Sonst habe ich keinen Respekt vor dir.
Warum?
Das lerne ich in meiner albanischen Kultur.
Warum hat er überhaupt eine Waffe gezogen?
Weil er eine Pussy ist. Dann fiel ihm auch noch die Munition raus, musste sie am Boden suchen. Sorry, aber dann bist du nicht reif genug, um eine Waffe mit dir zu führen. Er verpisste sich dann schnell.
Und das wars?
Nein. Ich besorgte mir auch eine Waffe und fuhr am nächsten Tag durch seine Stadt, suchte ihn überall. Bis er mir schrieb: «Hey, können wir das vergessen, ich habe Angst, aus dem Haus zu gehen.»
Du hättest deine Zukunft und deine Familie zerstört.
Ja, aber ich hätte es gemacht, ich hätte ihn weggenommen.
Aber wieso?
Wieso? Für meinen Stolz.
Woher Danjel die Waffe hatte, will er nicht sagen. Die Polizei war nicht involviert. Seine Kumpels bestätigen den Vorfall, waren auch dabei.
Bisher waren Gang-Fehden in der Schweiz ein Randphänomen. Neu ist es jetzt oft so, dass die Jungen «in Gruppen agieren», sich mit anderen Jugendlichen streiten, wie die Zürcher Kripo-Chefin Christiane Lentjes Meili kürzlich an einer Medienkonferenz sagte. Neu ist auch, dass die Konflikte «härter geworden» sind. Oft bleibe es nicht mehr allein bei der Drohung. Sie trügen häufiger Waffen, die sie dann auch einsetzten.
All das zeigt: Die Gewaltkultur aus den französischen Banlieues, den Ghettos der deutschen und der US-Grossstädte schlägt auch bei uns durch. Und etabliert sich als Populärkultur. Das hat mit «Vorbildern aus der Hip-Hop-Szene» zu tun, sagt der Kriminologe Dirk Baier. Mit den Underdogs, die sich zu Gangster-Rappern mit Luxuskarossen und Schusswaffe in der Tasche hochgearbeitet haben. Sie vermarkten sich über Youtube, Tiktok, Snapchat und Instagram – die Lebensadern der Jugendlichen.
Auch Schweizer Rapper inszenieren sich als Gangster. Aus einer Musikbox am «Stadi» dröhnt der knapp 20-Jährige Dukat aus Adliswil ZH: «Ränn mal schnäller, susch bechunsch vom Schuss Wunde. Mir händ Material und Kurac (Schwanz) so wie Sackhaar. (...) Sletschte, was du gsehsch, isch mis Grinse und de Gott, durchlöchere dis Huus.»
Das ahmen die Jungen nach, sie schärfen ihr Gangster-Image über die sozialen Medien. So wie die Schlieren-Gang. Auf ihrem Instagram-Account HNCD – das französische Akronym für deren Postleitzahl – verbreiten sie Fotos und Videos von lokalen Plattenbauten, von Messern, die sie aufklappen, Handfeuerwaffen, die sie laden, 1000er-Noten.
St. Gallen war wohl nur der Anfang
Diese Symbolik tauchte auch in St. Gallen auf. Nach der Krawallnacht ging ein Tiktok-Video mit einer Szene viral: Polizisten blockieren vorne die Strasse, vor ihnen machen rund zehn Jungs im Kollektiv Liegestützen – eine Macho-Machtdemonstration. Im Video läuft dazu der Song des deutschen Rap-Stars Haftbefehl: «Ich geh mein' Weg mit Machete. Unterwegs mit Neun-Millimeter.»
Die auf gestern angekündigten Jugendkrawalle blieben aus. Das Problem aber verschwindet nicht. Die Massnahmen bleiben rigide, Langeweile und Frust wachsen, und die Abende werden jetzt wärmer. Die Jugendlichen werden sich ihren Platz in der Gesellschaft wohl zurückholen. Wenn nötig mit Gewalt.