Der Frust entlädt sich nicht nur auf der Strasse. Nach den Jugendkrawallen in St. Gallen machen Jugendliche ihrem Unmut auch verbal Luft. Sie fühlen sich von der Politik im Stich gelassen, von älteren Generationen missverstanden, von den Corona-Massnahmen besonders eingeschränkt. Während Senioren geimpft werden und auf Privilegien bei Veranstaltungen oder Reisen hoffen dürfen, müssen sich die Jungen noch Monate gedulden. Sie, die selbst am wenigsten vom Virus zu befürchten haben, müssen sich seit über einem Jahr besonders zurücknehmen.
Nun reisst der Jugend der Geduldsfaden. War die Generationensolidarität zu Beginn der Krise stark, pochen die Jugendlichen darauf, dass jetzt endlich auch auf sie Rücksicht genommen wird. Die junge Generation müsse «politisch gehört werden», forderten die Jungparteien von Die Mitte, Grünen, SP, GLP und EVP diese Woche in einem offenen Brief an den Bundesrat.
Es gibt aber auch eine andere Lesart: In kaum einem anderen Land wurden die Jugendlichen so wenig von der Krise getroffen wie in der Schweiz. Während Junge in anderen Ländern um ihre Existenz bangen, sorgt sich unsere Jugend um den verpassten Ausgang.
Wie stark leiden die Jungen bei uns also tatsächlich unter der Corona-Pandemie?
Job und Arbeitsmarkt
Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Die Zahl der arbeitslosen Jugendlichen zwischen 15 und 24 Jahren hat innert Jahresfrist um 43 Prozent zugenommen. Das ist leicht mehr als der Anstieg der Arbeitslosigkeit insgesamt. Den Corona-Höhepunkt erreichte die Jugendarbeitslosigkeit im August 2020 mit 20'341 Jugendlichen ohne Job.
Der Grund: Nach dem Sommer sollten Lehrabgänger eine Stelle finden, den Sprung ins Berufsleben schaffen. Denn wer nach der Lehre keinen Job findet, der droht den Anschluss und die beruflichen Perspektiven zu verlieren. Die Folge: Der Lohn könnte langfristig tiefer bleiben als bei Jugendlichen, die vor Corona in den Arbeitsmarkt gekommen sind.
Die gute Nachricht: Unter Jugendlichen gibt es fast keine Langzeitarbeitslosen, die meisten finden innert eines Jahres einen Job. Bis zum Februar hatte sich der Stau auf dem Stellenmarkt für Jugendliche etwas abgebaut, waren noch 17'328 arbeitslos, gut 3000 weniger als im August 2020. Die Jugendarbeitslosenquote liegt bei 3,3 Prozent. Das ist etwas weniger als die Gesamtarbeitslosigkeit: Insgesamt waren in der Schweiz im Februar 167'953 Menschen arbeitslos, die Arbeitslosenquote lag bei 3,6 Prozent.
Fazit: Die Jugendlichen sind etwas weniger stark von Arbeitslosigkeit betroffen als andere. Nur: Wenn der Einstieg ins Berufsleben nicht klappt, kann dies langfristig gravierende Folgen haben.
Ausbildung
Corona trifft vor allem viele Schülerinnen und Schüler hart. Nämlich diejenigen, die jetzt eigentlich eine Schnupperlehre oder ein Praktikum absolvieren müssten, sich darüber klar werden sollten, wohin sie die berufliche Karriere führen wird. Doch wegen Corona ist der Markt praktisch ausgetrocknet. «Es ist schwierig, ohne einen ersten Einblick eine geeignete Lehrstelle zu finden», sagt Domenica Mauch (32) von der Lehrstellenplattform Yousty.
Diejenigen, die schon etwas weiter sind, stehen besser da. Die Bereitschaft der Firmen, trotz Corona den Nachwuchs auszubilden, ist ungebrochen hoch: 78 Prozent aller Lehrstellen mit Ausbildungsbeginn im August sind bereits besetzt. «Ein guter Wert, trotz Corona», erklärt Mauch.
Der Knackpunkt auch in diesem Jahr: Finden möglichst viele Lehrabgänger einen Job? Etwas Optimismus ist angesagt, denn im Gegensatz zu 2020 gibt es in diesem Jahr wieder Abschlussprüfungen. Die Jugendlichen können also zeigen, was sie gelernt haben. Ein weiterer Pluspunkt: Die Wirtschaft hat sich vom Corona-Schock erholt, es braucht wieder mehr Arbeitskräfte.
Fazit: Bildungsmässig läuft es für Jugendliche meist gar nicht schlecht, selbst im Homeoffice ist eine Ausbildung möglich.
Freizeit und Sozialleben
Nach der Schule bei Freunden rumhängen, abends in den Sportclub, am Wochenende in den Ausgang: Der Freizeitplanung der Jungen hat Corona einen dicken Strich durch die Rechnung gemacht. Nicht nur Partys, Open Airs und andere Veranstaltungen fallen weg, sondern auch im Privaten ist der soziale Kontakt stark eingeschränkt. «Es ist ein Grundbedürfnis im Jugendalter, Gleichaltrige zu treffen», sagt Nicole Joerg Ratter (41), Geschäftsleiterin des Trägervereins für die offene Jugendarbeit der Stadt Bern. In der Corona-Pandemie fehlten ihnen aber diese Möglichkeiten und Orte dazu. «Anders als Erwachsene sind Jugendliche mehr auf den öffentlichen Raum als Begegnungsort angewiesen.»
Seit 1. März gelten für Jugendliche bis 20 Jahre aber Ausnahmen im Sport- und Freizeitbereich. Zudem dürfen sich seither wieder bis zu 15 Personen draussen treffen. «Das hat den Jugendlichen Freiraum zurückgegeben», sagt Sozialarbeiterin Joerg Ratter. Der Dachverband für offene Kinder- und Jugendarbeit findet aber, dass die Sonderregeln für junge Erwachsene bis 25 gelten sollten.
Fazit: Ja, die Einschränkungen des Soziallebens treffen die junge Generation am härtesten. Immerhin gelten für sie in diesem Bereich aber gewisse Privilegien.
Gesundheit
Laut einer Studie der Uni Basel stieg der Anteil von Personen mit schweren depressiven Symptomen von drei Prozent vor Corona auf 18 Prozent im vergangenen November. Hauptbetroffene waren die 14- bis 24-Jährigen. Von ihnen gab fast ein Drittel an, unter schweren Depressionen zu leiden. Bei der Beratungsstelle 147 der Pro Juventute melden sich täglich rund 700 Jugendliche. «Die sozialen Einschränkungen aufgrund von Corona und familiäre Konflikte sowie psychische Probleme waren die Hauptthemen», sagt Mediensprecherin Lulzana Musliu. «Die Jungen waren bis jetzt grossmehrheitlich absolut solidarisch. Sie erhielten dafür aber nur wenig Anerkennung und es wurde kaum über ihre Bedürfnisse gesprochen», stellt sie fest.
Beunruhigend: Die Anzahl Kriseninterventionen, die Pro Juventute durchgeführt hat, haben sich von 57 im Jahr 2019 auf fast 100 im letzten Jahr beinahe verdoppelt. Als Kriseninterventionen gelten Beratungsgespräche bei Gefährdungspotenzial, grossmehrheitlich ging es um Selbstgefährdung.
Diesen Trend bestätigt auch die Beratungsstelle Dargebotene Hand. «Bei unserer Stelle in Bern handelte 2020 jeder vierte Chatkontakt mit einer Person unter 18 Jahren von Suizid oder Suizidabsichten», sagt Sprecherin Daniela Humbel. Auch sie spricht von einer Verdoppelung gegenüber dem Vorjahr.
Fazit: Die Jungen sind psychisch von der Corona-Krise besonders betroffen. Als Heranwachsende leiden sie insbesondere unter sozialen Einschränkungen, Konflikten daheim und Zukunftsängsten.
Politische Mitsprache
Jugendliche haben es schwer, politisch Einfluss auszuüben – das war schon vor der Corona-Krise so. Ein Grund: Sie sind in den entscheidenden Gremien nicht vertreten. Der jüngste Bundesrat, Alain Berset, ist 48 Jahre alt, von den 246 National- und Ständeräten sind lediglich fünf unter 30 – der jüngste ist 27. «Obwohl wir alle mal so jung waren, befinden wir uns in einer anderen Lebensrealität. Das hat einen Einfluss», so Grünen-Nationalrätin Franziska Ryser (29), die selbst zu den Jüngsten im Bundesparlament gehört.
Ein weiteres Problem: «Den Jungen fehlt eine Lobby», sagt Ryser. Während die Gastrobranche medienwirksam poltert und die Tourismusvertreter an runde Tische geladen werden, gelang es den Jugendlichen kaum, auf ihre Anliegen aufmerksam zu machen.
Aus Sicht Rysers zeigt das, wie wichtig es ist, dass sich Junge politisch engagieren. Hier passierte in den letzten Jahren wieder mehr – das beste Beispiel: die Klimajugend-Bewegung. Doch selbst diese ist in der Krise praktisch in der Bedeutungslosigkeit versunken.
Fazit: Die Jugendlichen gehen in der politischen Debatte völlig unter. Gerade jetzt wäre es aber wichtig, dass auch ihre Anliegen gehört werden.