Es war ein schmerzhafter Reifungsprozess, den FDP-Aussenminister Ignazio Cassis (60) in den letzten Monaten durchmachen musste, bevor er einen Schlussstrich unter das EU-Rahmenabkommen zog. Der Tessiner war eigentlich angetreten, den Reset-Knopf zu drücken, und legte 2018 auch einen Vertragsentwurf vor. Nur hatte er es verpasst, die Gewerkschaften rechtzeitig einzubinden und so eine tragfähige Allianz zu schmieden.
Das Dossier blieb damit blockiert – und je länger, desto stärker wuchs der Widerstand. Mit seinen Alternativen, etwa einer Weiterentwicklung des Freihandelsabkommens, lief Cassis im Bundesrat immer wieder auf.
FDP und SVP wollten Abbruch
Am Mittwoch zog der Freisinnige zusammen mit Parteikollegin Karin Keller-Sutter (57) sowie den beiden SVP-Magistraten Ueli Maurer (70) und Guy Parmelin (61) die Reissleine. Die beiden SVP-Vertreter hatten ohnehin nie etwas von einem Rahmenabkommen wissen wollen, vor allem Maurer hielt mit seiner Abneigung gegen «die verfluchten Vögte» nie zurück. Und Keller-Sutter stand insbesondere der Unionsbürgerrichtlinie kritisch gegenüber, welche den Sozialhilfebezug für EU-Bürger erleichtert hätte.
Mitte-Bundesrätin Viola Amherd (58) hingegen stellte sich gegen den Abbruch. Sie hatte das Abkommen jüngst mit einem Schlichtungsvorschlag zu retten versucht: Die Schweiz sollte der EU bei der Unionsbürgerrichtlinie entgegenkommen, im Gegenzug würden die flankierenden Massnahmen garantiert.
SPler wollten Sturzflug nicht
Auch die beiden SP-Vertreter Simonetta Sommaruga (61) und Alain Berset (49) wollen geregelte Verhältnisse mit der EU und wollten die Europäer deshalb nicht derart brüsk vor den Kopf stossen, sondern die Verhandlungen weiterführen – im Wissen um die verfahrene Situation. Auch wenn das Resultat wohl dasselbe gewesen wäre, hätten sie anstelle des jetzigen Sturzflugs eine etwas «weichere Landung» bevorzugt, wie es in Bundesbern heisst.
Doch die SVP-FDP-Allianz gab dem raschen Ende des Schreckens den Vorzug. Cassis' Überlegung dahinter: Das Rahmenabkommen ist verloren. Und solange dieses Problem wie ein dicker Elefant im Raum steht, versperrt es den Blick auf neue Ansätze. «Wenn sich der Pulverrauch verzogen hat, schauen wir weiter», so das Motto.
Vorbild Börsenanerkennung
Die Abbruch-Allianz hofft nun darauf, dass sich die EU früher oder später in den heute blockierten Dossiers wieder gesprächsbereit zeigt, weil diese nun – ohne Verhandlungen – ja auch nicht mehr als Verhandlungspfand nützen.
Und wenn nicht? «Dann müssen wir eigene clevere Lösungen für die Probleme finden», so ein Insider. Dabei dient auch der Knatsch um die von der EU verweigerte Börsenanerkennung als Vorbild: Der EU-Nadelstich schmerzt nicht, weil Maurers Finanzdepartement eine sogar besser funktionierende Alternative gefunden hat. Und notfalls könne man auch mit dem Status quo gut leben. Denn: «Nicht alles, was wünschbar ist, ist auch notwendig.»