Nun könnte es faustdick kommen. Brüssel ist über den Abbruch der Gespräche zum Rahmenabkommen herb enttäuscht – und droht einmal mehr mit Vergeltungsmassnahmen. Dabei sind sich die EU-Behörden für fast nichts zu schade.
So könnten ohne die Aktualisierung des Abkommens über den Handel mit Agrarprodukten nicht nur Schweizer Lebensmittelexporte von Milch und Fleisch erschwert werden. Auch der Import von Lebensmitteln in unser Land würde schwieriger, wenn sich die EU nun weigert, das Abkommen aufzudatieren. Als wollte Brüssel die Schweiz nun auf Diät setzen!
Detailhändler Migros macht sich deswegen aber keine Sorgen. «Ein derartiges Vorgehen stünde kaum im Interesse der EU», sagt Unternehmenssprecher Marcel Schlatter. Ohnehin stammten rund 70 Prozent der Lebensmittel in der Migros aus der Schweiz.
Auch die IG Detailhandel Schweiz geht nicht davon aus, dass bestehende Abkommen kurzfristig gekündigt werden. Noch sei es aber zu früh für eine Beurteilung. «Wir verfolgen die Entwicklungen intensiv und werden versuchen, negative Auswirkungen möglichst abzufedern», sagt IG-Geschäftsstellenleiter Patrick Marty.
Dossiers blockiert, die nicht mit Rahmenabkommen zu tun haben
Dennoch bleibt offensichtlich: Die EU sieht den Verhandlungsabbruch vom Mittwoch als unfreundlichen Akt. Und diesen wird sie nicht so einfach hinnehmen. Schon bisher hatte sie mit verschiedenen Schikanen versucht, die Schweiz zum Unterzeichnen des Abkommens zu drängen.
Dabei hat Brüssel sich nicht davor gescheut, auch Dossiers mit dem Rahmenabkommen zu verknüpfen, die gar nichts damit zu tun haben. So wurde etwa die Schweizer Börse schlechter gestellt oder die SBB von einem europäischen Forschungsprogramm ausgeschlossen. Auch die Schweizer Beteiligung am EU-Forschungsprogramm Horizon ist auf Eis gelegt.
Und der Druck von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (62) wird weiter zunehmen. Die EU hat schon vor dem Entscheid des Bundesrats ein Faktenblatt mit möglichen Konsequenzen veröffentlicht. Die Botschaft ist klar: Wenn die Schweiz nicht einlenkt, wird sie dafür büssen müssen.
Neue Hürden für Medizinalbranche
Die schleichende Erosion des Schweizer Zugangs zum Binnenmarkt hat bereits am Mittwoch begonnen. Weil die EU beim Abkommen über technische Handelshemmnisse ein Update blockiert hat, sehen sich Schweizer Hersteller von Medizinalprodukten ab sofort mit zusätzlichen Hürden konfrontiert, wenn sie ihre Produkte in die EU exportieren.
Das bedeutet nicht nur einen grösseren bürokratischen Aufwand, sondern auch entsprechend Mehrkosten von rund zwei Prozent. Wer nun argumentiere, die zusätzlichen Kosten seine verkraftbar, «verkennt völlig, wie hart der internationale Konkurrenzkampf ist», sagt Beat Vonlanthen, Präsident des Branchenverbands Swiss Medtech. Sorge bereite «der Verlust der Standort-Attraktivität».
Die Liste mit möglichen Vergeltungsmassnahmen ist lang. So muss etwa auch die Luftfahrt mit neuen Hindernissen rechnen. Studenten-Austauschprogramme sollen auf Eis gelegt werden.
Stromabkommen den Stecker gezogen
Ausserdem wird auch dem bereits ausgehandelten Stromabkommen vorerst der Stecker gezogen. Mittelfristig droht die Schweiz beim Stromhandel damit benachteiligt zu werden. Probleme zu befürchten sind bei der Netzstabilität, beim Stromhandel und bei der Versorgungssicherheit.
Das dürfte für hiesige Stromunternehmen auch teuer werden, fürchtet Energieministerin Simonetta Sommaruga (61): «Und deshalb ist es so wichtig, dass wir den Ausbau der erneuerbaren Energien, die Stromversorgungssicherheit vor allem auch in der Schweiz stärken.» Allerdings: Im Gegenzug ist die EU auch auf die Transitleitungen durch die Schweiz angewiesen.
Mit dem Auslaufen des Abkommens über die technischen Handelshemmnisse dürften nach der Medizinalbranche als Nächstes die Maschinenbauer und die Hersteller von Baustoffen mit zusätzlichen Erschwernissen rechnen müssen.
Öffentliche Gesundheit und Datenschutz
Auch ein bilaterales Gesundheitsabkommen bleibt wegen des Rahmenabkommens vorerst blockiert. Dadurch hat die Schweiz keinen gesicherten Zugang zu den Frühwarnsystemen der EU und kann sich im Krisenfall auch nicht an gemeinsamen Beschaffungen oder anderen Massnahmen beteiligen.
Die Notwendigkeit einer engen Zusammenarbeit zeigte sich gerade während der Corona-Krise. Die Schweiz ist derzeit aber vom Entgegenkommen der EU abhängig. So zeigt sich diese zwar bei einem gemeinsamen Impf-Zertifikat offen. Bei der europäischen Corona-App dagegen blieb die Schweiz aussen vor.
Ein weiterer Punkt ist die Anpassung der Datenschutzregeln. Wenn die EU jene der Schweiz nicht anerkennt, könnten hiesigen Firmen die Verarbeitung kundenbezogener Daten aus der EU untersagt und neue Hürden auferlegt werden.
Wo immer es um den Zugang der Schweiz zum EU-Binnenmarkt geht, will die EU-Zentrale Entscheide nun im Lichte des Verhandlungsabbruchs neu beurteilen. Abkommen sollen nur noch aktualisiert werden, wenn es im Interesse der EU ist.
Dass nun erst einmal eine kleine Eiszeit auf die Schweiz zukommt, ist auch dem Bundesrat klar. Es werde Nachteile geben, aber man habe Zeit, darauf zu reagieren, versucht Aussenminister Ignazio Cassis (60), den Ball flach zu halten. Und «wenn die Emotionen sich wieder etwas beruhigt haben», sei man zuversichtlich, wieder miteinander ins Gespräch zu kommen. «Wir sind ein nicht unwesentlicher Partner der EU», so Cassis. (dba)