Stillstand, Blockade, Paralyse. Das ist allem Augenschein nach der aktuelle Zustand der Europapolitik. Das liegt auch am Signal, das der Bundesrat seit längerem aussendet: Die EU bewegt sich nicht.
Aber stimmt das wirklich? Sicher ist, dass die Schweizer Unterhändlerin Livia Leu Agosti mit einem ambitionierten Mandat nach Brüssel reiste. Und dass das vorliegende Resultat der Regierung nicht reicht.
Nun zeigt sich, dass der Brüsseler Granit vielleicht doch nicht so hart ist, wie die Exekutive ständig behauptet. SonntagsBlick liegt ein E-Mail von Stéphanie Riso vor. Die 44-jährige Französin ist die Unterhändlerin der Europäischen Union und damit Leus Gegenspielerin. Riso versandte das Schreiben an Michael Karnitschnig, Direktor für Aussenbeziehungen im Generalsekretariat der EU-Kommission, und EU-Parlamentarier Andreas Schwab.
Unter dem Betreff «Bitte um Klarstellung» macht die Diplomatin ihrer Verzweiflung angesichts der harten Schweizer Verhandlungsposition Luft. Die Diskussion um die Personenfreizügigkeit und die Unionsbürgerrichtlinie (UBRL) nennt sie die «komplexeste» und «am wenigsten finalisierte» Frage.
Sieben Ausnahmen für die Schweiz
Laut Riso will die Schweiz in diesem Bereich sieben Ausnahmen in das Abkommen einfügen. Dann schreibt sie etwas Überraschendes: «Trotzdem sind wir bereit, uns mit diesen sieben Punkten eingehend zu beschäftigen.» Man sei willens, so Riso weiter, den Vertrag «Zeile für Zeile» durchzugehen, «um zu sehen, ob wir Lösungen finden».
Brisant ist der Zeitpunkt des E-Mails: Getippt hat es Riso am 3. Mai, also zwei Wochen nach dem Besuch von Bundespräsident Guy Parmelin bei EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Brüssel. Zwei Wochen, nachdem der Bundespräsident von «erheblichen Differenzen» sprach, welche Bern und Brüssel trennten.
Dass die Position der Union flexibler ist als bislang bekannt, zeigt ein weiteres Dokument, das SonntagsBlick vorliegt: ein Bericht des Chefs der Schweizer Mission bei der EU in Brüssel, Urs Bucher, an die Zentrale in Bern. Darin beschreibt der Diplomat eine Videokonferenz vom vergangenen Dienstag, deren Inhalt er aufgrund von Gesprächen mit Konferenzteilnehmern rekonstruiert.
Dabei besprach die für die Efta-Staaten zuständige EU-Arbeitsgruppe die Verhandlungen über das Rahmenabkommen. Bei dieser Sitzung betonen Vertreter der EU-Kommission erneut ihre Kompromissbereitschaft. Man wolle die Tür offen halten für einen «globalen Kompromiss», um dem Vertrag zum Durchbruch zu verhelfen. Gefragt sei dann aber auch der politische Wille der Schweiz, um «eine ausgeglichene Lösung» zu finden.
Bei der UBRL sei die EU-Kommission der Auffassung, dass eine Diskussion der strittigen Punkte möglich sei, um die genauen Differenzen zu bestimmen. Wenn die Schweiz denn wolle. Bei fünf der sieben problematischen Punkte seien Kompromisse möglich, auch wenn es die Union «vorziehe», die Grundsätze der vier Grundfreiheiten nicht anzutasten.
Gibt die EU nach?
Diese Formulierung – falls sie tatsächlich so geäussert wurde – ist brisant: Bisher galten der EU die vier Grundfreiheiten, darunter die Personenfreizügigkeit, als unantastbar. Zeichnet sich hier ein Paradigmenwechsel ab? Das Protokoll des Schweizer Botschafters beantwortet diese Frage nicht.
Sicher ist dagegen: In Brüssel herrscht der Eindruck vor, dass das Gesprächsangebot in Bern auf taube Ohren stosse. Der Vertreter der EU-Kommission zeigte sich jedenfalls enttäuscht darüber, dass die Schweiz bislang nicht darauf reagiert habe.
Der Zürcher FDP-Aussenpolitiker Hans-Peter Portmann steht als Vertreter der EU/Efta-Delegation in Kontakt mit Bern und Brüssel. Er habe auf beiden Seiten Lösungsansätze ausmachen können, «die auch bei der Schweizer Bevölkerung mehrheitsfähig wären». Allerdings teilten ihm beide Seiten jeweils mit, dass sich die andere bewegen müsse. «Es kommt mir vor, als ob sich hier Kindsköpfe statt regierungsfähiger Persönlichkeiten gegenüberstehen», so Portmanns bitteres Fazit.
Derweil liegen in Bern die Nerven blank. Ein heisses Gerücht versetzt die Befürworter in Aufruhr: So sei der Europa-Ausschuss des Bundesrats – Bundespräsident Parmelin, Aussenminister Ignazio Cassis und Justizministerin Karin Keller-Sutter – dabei, an einer Formulierung zur Sistierung des Abkommens zu feilen. Fest steht, dass sich das Trio derzeit häufig austauscht.
Was es damit auf sich hat, könnte sich bereits am Mittwoch zeigen: Es wird erwartet, dass der Bundesrat dann zum ersten Mal öffentlich Position zu den aktuellen Verhandlungen bezieht.