In Frankreich stehen zahlreiche Atomkraftwerke still und wegen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine wird es bei der Gasversorgung eng. Nun wappnet sich die Schweiz für eine Strommangellage im Winter. «Es geht jetzt ums Ganze», mahnte SP-Energieministerin Simonetta Sommaruga (62) kurz vor den Sommerferien. Und SVP-Wirtschaftsminister Guy Parmelin (62) rief bereits zum Energiesparen auf. Sonst drohe eine Rationierung.
Für den Ernstfall hält der Bund einen Notfallplan bereit. Zuständig dafür ist die Organisation für Stromversorgung in Ausserordentlichen Lagen (Ostral). In einer Präsentation beschreibt sie das Vorgehen, wenn zu wenig Strom für alle vorhanden ist. Der Stufenplan reicht von Sparappellen an Bevölkerung und die Wirtschaft, über sanfte Sparmassnahmen bis hin zu harten Eingriffen mit Kontingentierungen und Netzabschaltungen.
Rolltreppen und Lifte abschalten
In der Massnahmen-Kaskade tauchen rasch einmal auch Verbote und Verbrauchseinschränkungen auf. «Um Energie zu sparen, werden nicht absolut notwendige, energieintensive Geräte durch den Bundesrat verboten», heisst es im Papier.
Danach folgt eine Auflistung, was alles unter ein Verbot fallen könnte – von Saunas und Schwimmbädern, über Klimaanlagen und Schaufensterbeleuchtungen, bis hin zu Rolltreppen und Aufzügen. Nur absolut existenzielle Einrichtungen würden verschont bleiben, sagte Ostral-Geschäftsleiter Lukas Küng (56) kürzlich im SonntagsBlick.
«Schocknachricht» für Gehbehinderte
Stillgelegte Rolltreppen und Lifte! «Das war für mich eine Schocknachricht!», sagt die Oltnerin Therese Krähenbühl (68) zu Blick. Seit einem schweren Unfall ist sie gehbehindert. Sie macht sich nun Sorgen. «Ich stehe in meinem Alltag immer wieder vor Hürden. Werden nun auch Lifte und Rolltreppen abgestellt, ist das eine massive Einschränkung meiner Mobilität im öffentlichen Raum.»
Doch nicht nur Gehbehinderte seien betroffen. «Auch Rollstuhlfahrer, viele ältere Menschen oder auch Eltern mit Kinderwagen werden beispielsweise beim Reisen oder Einkaufen eingeschränkt oder gar ausgeschlossen.»
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Dass Strom gespart wird, dagegen hat Krähenbühl im Grundsatz nichts. So wäscht sie etwa ihr Geschirr von Hand ab und ist auch bereit, die Heizung tiefer einzustellen. «Stromsparen auf Kosten der Schwächsten der Gesellschaft kommt aber nicht infrage», macht sie klar.
«Ich erwarte vom Bundesrat, dass er die Notmassnahmen sorgfältig prüft und behinderte Menschen auch in einer solchen Krisensituation nicht einfach vergisst.» Es ist nämlich die Landesregierung, die definitiv über die Verbotsliste entscheiden müsste.
Mitte-Lohr: «Es fehlt an Sensibilität»
Krähenbühl ist mit ihren Bedenken nicht allein. «Bevor solche Massnahmen umgesetzt werden, muss man sich der vielschichtigen Konsequenzen bewusst sein», sagt Mitte-Nationalrat Christian Lohr (60), der selber auf den Rollstuhl angewiesen ist – und damit auch auf Aufzüge. «Menschen mit Einschränkungen werden von den Behörden immer wieder vergessen, das haben wir auch während der Corona-Pandemie erlebt.»
Umso wichtiger findet er, dass frühzeitig der Finger auf den wunden Punkt gelegt wird. «Ob eine Sauna geschlossen oder ein Lift stillgelegt wird, ist doch ein grosser Unterschied», so Lohr. «Man muss doch unterscheiden, ob es sich um blossen Luxus handelt oder zur Bewältigung des Alltags notwendig ist. Sonst werden Menschen mit Behinderung einmal mehr ausgegrenzt.»
Dass Rolltreppen und Lifte überhaupt in der Auflistung gelandet sind, ärgert Lohr. «Aber es erstaunt mich auch nicht, dass sich Schreibtischtäter keine grossen Gedanken darüber machen.» Auch in anderen Bereichen fehle es den Behörden oft an Sensibilität gegenüber Handicapierten.
Lohr will jedenfalls ein wachsames Auge auf die vom Bundesrat angedachten Massnahmen haben. «Es ist mir bewusst, dass es einschneidende Massnahmen geben kann», sagt der Thurgauer. «Diese dürfen aber nicht auf dem Buckel behinderter Menschen umgesetzt werden.»
Auf vulnerable Menschen Rücksicht nehmen
Ähnlich tönt es bei Peter Burri Follath (52), Kommunikationschef von Pro Senectute. Er kann sich nur schwer vorstellen, dass der Bundesrat Liften und Rolltreppen den Stecker zieht. Und wenn doch, dann müsse die Regierung auf Bedürfnisse vulnerabler Menschen Rücksicht nehmen, betont er.
Er schätzt, dass mehrere Hunderttausend Seniorinnen und Senioren altershalber im Alltag auf Hilfsmittel wie Lifte angewiesen sind. «Wir werden sicher genau hinschauen, dass für sie im Alltag kein massiver Nachteil entsteht», so Burri Follath. «Es gibt sicher noch weitere Möglichkeiten, wo vielleicht zuerst noch eingespart werden müsste.»