Notfallorganisation warnt vor Gasknappheit
«Der öffentliche Verkehr würde lahmgelegt»

Im Ernstfall würden Tunnels gesperrt, Lichtsignale ausgeschaltet und Züge gestoppt, warnt der Chef der Notfallorganisation Ostral – und kritisiert die Schläfrigkeit mancher Kantone.
Publiziert: 03.07.2022 um 00:40 Uhr
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Aktualisiert: 03.07.2022 um 09:23 Uhr
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Manhattan im Dunkeln (vor dem Sturm Sandy 2012): Laut Lukas Küng droht dieses Szenario in Schweizer Städten.
Foto: Keystone
Reza Rafi

Dunkle Wohnviertel, stillgelegte Lifts und Rolltreppen, frierende Menschen. Ein Gespenst geht um in Europa: das Gespenst des Energiemangels. Auch die Schweiz muss sich Sorgen machen, seit der Bundesrat am Mittwoch die Bevölkerung vor einem drohenden Engpass bei der winterlichen Gasversorgung warnte und zum geizigeren Umgang mit Energie mahnt.

Dass die Regierung eines so reichen Landes zum Sparen bei Grundgütern aufruft, dass in unserer Überflussgesellschaft überhaupt das Wort Mangel kursiert, gab es letztmals während der Ölkrisen der 70er-Jahre.

Auftrag durch den Bund

Mitten in dieser ungewohnten Entwicklung steht Lukas Küng (56). Er leitet nebst seinen Mandaten in der Strom- und Energiebranche auch eine Organisation namens Ostral. Bis vor kurzem wussten nur Insider, was das ist. Die Abkürzung bedeutet «Organisation für Stromversorgung in Ausserordentlichen Lagen». Geschaffen wurde sie vom Verband Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen, der wiederum den Auftrag des Bundes erhielt, das Land auf eine sogenannte Strommangellage vorzubereiten.

In diesen Tagen geistert eine Ostral-Präsentation durch die Öffentlichkeit, deren Inhalt aufschreckt. Ziemlich genau wird darin beschrieben, was auf die Schweiz zukommt, wenn es zum ungünstigsten Fall einer Unterversorgung mit Elektrizität kommt. «Sparappelle an Wirtschaft und Bevölkerung» sind nur der erste Schritt, es folgen Verbrauchsverbote. «Sauna, Whirlpool, Schwimmbäder, Klimaanlagen, Rolltreppen, Aufzüge usw.», heisst es. Nützt auch das nichts, folgen Kontingentierungen, also «sanfte» Sparmassnahmen, wie es im Dokument heisst: «Alle Grossverbraucher sind dazu verpflichtet, eine angeordnete Energiemenge einzusparen, um Abschaltungen möglichst zu vermeiden.» Als Ultima Ratio skizzieren die Ostral-Experten den äussersten Fall, vor dem sich Wirtschaft und Politik fürchten: zyklische Stromsperren. Vier bis acht Stunden würde dann gebietsweise die Elektrizität abgeschaltet.

Was würde alles ausfallen?

Angesichts solcher Vorstellungen stellt sich eine lange Reihe von Fragen. SonntagsBlick wollte von Lukas Küng vor allem wissen: Handelt es sich tatsächlich um eine real mögliche Situation?

«Ja», sagt Küng unumwunden. «Das hiesse Kerzenlicht und eine kalte Ölheizung. Auch der Verkehr würde nicht mehr funktionieren, die Lichtsignale fallen aus und Tunnels wären gesperrt. Der öffentliche Verkehr wäre lahmgelegt.»

Nur absolut existenzielle Einrichtungen würden verschont bleiben: «Spitäler haben eine Notstromversorgung», sagt Küng. «Aber wir machen ja alles, um im Winter nicht an diesen Punkt zu kommen.» Dennoch stellt sich natürlich die Frage der Kosten und Schäden. Wer haftet zum Beispiel, wenn die Alarmanlage eines Juweliers nicht funktioniert und es zu einem Einbruch kommt? «Was Entschädigungsfragen betrifft, würde in diesem Fall ausserordentliches Recht gelten, der Staat würde dann nicht haften. Weil Schadenersatzansprüche wegfallen, müsste ein Bijoutier für seine Sicherheit selber aufkommen und beispielsweise auf ein Metallgitter setzen.»

Gibt es Entschädigungen?

Ausnahmen gelten, so der Ostral-Chef, wenn ein Wirtschaftszweig von der Energieversorgung getrennt wird und zu Schaden kommt. Dann wäre der Anspruch auf Entschädigung gegeben. «Es könnte natürlich eine politische Diskussion geben – wie bei den Mieten von geschlossenen Einrichtungen während der Corona-Pandemie.»

Küngs Organisation steht nicht nur mit dem Bund in Kontakt, sondern auch mit den Kantonen. «Ostral hat den Auftrag, die Massnahmen mit kantonalen Krisenstäben zu koordinieren», bestätigt er.

Wenn sich die Involvierten in diesem Prozess hinter vorgehaltener Hand äussern, ist unüberhörbar, dass es bezüglich Tempo und Seriosität eklatante Unterschiede gibt. Offensichtlich sind einige Stände im Verzug, was die Vorbereitung für den Winter angeht.

Kantone haben bis November Zeit

Küng drückt sich etwas diplomatischer aus: «Manche sind vorbildlich und haben Konzepte erstellt, dazu gehören unter anderen die Westschweizer oder Baselland. Andere haben sich noch weniger damit auseinandergesetzt.» Der Ostral-Leiter gibt seinen Partnern nicht mehr sehr viel Zeit, um vorwärtszumachen: «Bis im Oktober, November sollten die Kantone parat sein.»

Das sei zentral, auch wegen der Sicherheit, meint Küng. «Wenn wir eine Kontingentierung haben und alle unseren Verbrauch um 10 bis 20 Prozent senken, dann ist das erträglich, alles funktioniert noch einigermassen. Wenn es aber zu partiellen Netzausschaltungen kommt, braucht es ein Konzept: Die Blaulicht-Organisationen – Polizei, Feuerwehr, Sanität – müssen bereit sein. Denn wir würden ja kommunizieren, wann wo abgeschaltet wird. Das lesen alle mit.»

Solche Formulierungen lassen aufhorchen, da auch die Wahrscheinlichkeit einer solchen «ausserordentlichen Lage» schwer einzuschätzen ist. Überdies arbeiten Politik und Wirtschaft ja gerade darauf hin, sie zu verhindern. Teil dieser Strategie ist es daher auch, die Öffentlichkeit für den Fall von Extremszenarien zu sensibilisieren.

Alternativen gesucht

Umso dringender wird die Aufgabe, das Land mit energiepolitischen Alternativen abzusichern. Jacques Bourgeois (64), FDP-Nationalrat und Präsident der parlamentarischen Energiekommission, plädiert als kurzfristige Massnahme dafür, dass sich der Bund in Solidaritätsabkommen mit Deutschland und Frankreich seine Gasreserven in den benachbarten Speichern garantieren lässt. Der grüne Nationalrat Bastien Girod (41) verlangt von der Regierung, dass sie die strategische Wasserkraftreserve erhöht.

In einem herrscht Einigkeit: Die von Energieministerin Simonetta Sommaruga am 17. Februar lancierte Idee, die drohende Stromlücke mit Hilfe von Gaskraftwerken zu schliessen, hat spätestens seit Ausbruch des Ukraine-Kriegs an Attraktivität eingebüsst.

Denn wenn der russische Präsident Wladimir Putin (69) im Herbst Europa den Gashahn ganz abdrehen würde, läge die Schweiz im Dunkeln.

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