Auf einen Blick
- Alain Berset arbeitet als Generalsekretär des Europarates in einer Villa in Strassburg
- Er betont Wichtigkeit von Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Europa
- Warum das Urteil des Menschenrechtsgerichtshofes zur Witwenrente lange nicht umgesetzt wurde
Das bisschen Schweiz, das sich Alain Berset (52) in sein Büro in Strassburg mitgenommen hat, ist in einer Holzschatulle versteckt. Der alt Bundesrat zieht stolz drei Bergkristalle hervor und legt sie auf den Tisch.
Erinnerungen werden wach: an Adolf Ogi (heute 82), der 1999 mit solchen Kristallen einen chinesischen Staatsbesuch in der Schweiz vor einem Fiasko rettete. Ob er Ogis Tradition übernehmen wolle, habe er noch nicht entschieden, so Berset.
Doch nach dem Rücktritt aus dem Bundesrat kümmert sich der Sozialdemokrat seit 100 Tagen als Generalsekretär des Europarats ebenfalls um die Weltpolitik. Vor einigen Wochen führte er eine Mission in der Ukraine, gerade ist er aus Georgien zurückgekehrt. Frei nach dem Motto: New York statt neue Altersreform!
Alain Berset, der Europarat hat 46 Mitgliedstaaten mit jeweils einer eigenen Regierung. Wofür braucht es Ihren Posten eigentlich?
Alain Berset: Der Europarat ist die grösste vollständig europäische multilaterale Organisation. Wir verteidigen starke europäische und übrigens auch schweizerische Werte wie Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.
Alain Berset (52) ist seit Mitte September Generalsekretär des Europarats. Als solcher ist er für die strategische Planung des Rates verantwortlich und vertritt diesen nach aussen.
Zuvor war der Sozialdemokrat zwölf Jahre lang im Bundesrat verantwortlich für das Innendepartement und war dort unter anderem für die Gesundheitspolitik und die Altersvorsorge zuständig. In seine Amtszeit fiel die Bewältigung der Corona-Pandemie. Vor seiner Zeit im Bundesrat hatte Berset den Kanton Freiburg im Ständerat vertreten. Berset ist verheiratet und hat drei Kinder.
Alain Berset (52) ist seit Mitte September Generalsekretär des Europarats. Als solcher ist er für die strategische Planung des Rates verantwortlich und vertritt diesen nach aussen.
Zuvor war der Sozialdemokrat zwölf Jahre lang im Bundesrat verantwortlich für das Innendepartement und war dort unter anderem für die Gesundheitspolitik und die Altersvorsorge zuständig. In seine Amtszeit fiel die Bewältigung der Corona-Pandemie. Vor seiner Zeit im Bundesrat hatte Berset den Kanton Freiburg im Ständerat vertreten. Berset ist verheiratet und hat drei Kinder.
Frustriert es Sie, dass im Vorfeld Ihrer Wahl mehr über die Villa geredet wurde als über Ihren Job?
Zuerst einmal: Es ist vor allem ein Arbeitsort, zum Beispiel für Empfänge oder Sitzungen. Zuletzt begrüsste ich ein Mitglied des Parlaments und ehemaligen Minister. Am Tag davor hatte ich ein Arbeitsessen mit dem Präsidenten von Bulgarien. Ich mache dort alle Empfänge für die Botschafterinnen und Botschafter.
Ein Mitgliedstaat des Europarats ist Georgien. Vor und nach den Parlamentswahlen demonstrierte dort die Bevölkerung, die Proteste wurden niedergeschlagen, die Opposition unterdrückt. Das ist nicht demokratisch.
Letzte Woche verbrachte ich drei Tage in Tiflis, Georgiens Hauptstadt. Ich habe mit allen relevanten Akteuren gesprochen: den Behörden, der Opposition und der Zivilgesellschaft. Ich habe eine politisch sehr komplexe und sensible Situation mit viel Gewalt und Spannungen festgestellt. Die Mitgliedschaft in einer Organisation wie dem Europarat bringt Pflichten mit sich. Wir sind kein Wellnesscenter. Ich habe der Regierung die folgenden Botschaften sehr klar überbracht: Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit müssen in jedem Moment eingehalten werden. Wir müssen das Land in unserer europäischen Familie halten. Dies ist für die georgische Bevölkerung von entscheidender Bedeutung.
Wie wollen Sie das konkret machen?
Zunächst einmal, indem man vor Ort ist und mit den verschiedenen Akteuren spricht. Georgien ist ein Mitgliedstaat des Europarats, im Gegensatz zur EU. Was wäre die Alternative? In meinem Büro in Strassburg zu bleiben und brav abzuwarten, bis sich die Dinge beruhigen? Das ist nicht meine Art, Probleme zu lösen.
Die Ursprünge des Europarates reichen bis nach Zürich. 1946 hält Winston Churchill (1874–1965) eine berühmte Rede an der Uni Zürich, wo er kurz nach dem Zweiten Weltkrieg eine «Europäische Familie» der Gerechtigkeit, Nachsicht und Freiheit fordert. Daraufhin wurde im Mai 1949 der Europarat gegründet. Die Schweiz trat 1963 bei. Um Mitglied zu werden, musste die Schweiz die Europäische Konvention für Menschenrechte (EMRK) unterzeichnen. Sie sichert Menschenrechte wie das Recht auf Leben oder das Folterverbot.
Der Europarat mit Sitz in Strassburg hat verschiedene Organe, das bekannteste ist wohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit dem Schweizer Richter Andreas Zünd (67). Dazu kommt die parlamentarische Versammlung, wo auch Schweizer National- und Ständeräte dabei sind. Über die Politik des Europarats entscheidet das sogenannte Ministerkomitee. Die Schweiz wird dort entweder durch Aussenminister Ignazio Cassis (63) oder dessen ständigen Vertreter, Botschafter Claude Wild (60), vertreten.
Die Ursprünge des Europarates reichen bis nach Zürich. 1946 hält Winston Churchill (1874–1965) eine berühmte Rede an der Uni Zürich, wo er kurz nach dem Zweiten Weltkrieg eine «Europäische Familie» der Gerechtigkeit, Nachsicht und Freiheit fordert. Daraufhin wurde im Mai 1949 der Europarat gegründet. Die Schweiz trat 1963 bei. Um Mitglied zu werden, musste die Schweiz die Europäische Konvention für Menschenrechte (EMRK) unterzeichnen. Sie sichert Menschenrechte wie das Recht auf Leben oder das Folterverbot.
Der Europarat mit Sitz in Strassburg hat verschiedene Organe, das bekannteste ist wohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit dem Schweizer Richter Andreas Zünd (67). Dazu kommt die parlamentarische Versammlung, wo auch Schweizer National- und Ständeräte dabei sind. Über die Politik des Europarats entscheidet das sogenannte Ministerkomitee. Die Schweiz wird dort entweder durch Aussenminister Ignazio Cassis (63) oder dessen ständigen Vertreter, Botschafter Claude Wild (60), vertreten.
Was bringen solche Staatsbesuche überhaupt der Bevölkerung?
Mein Besuch hat mehrere Ergebnisse gebracht. Erstens verpflichtete sich die Regierung, jegliche Anwendung unverhältnismässiger Gewalt zur Auflösung von Demonstrationen zügig zu untersuchen, alle administrativen inhaftierten Personen schnell freizulassen und unabhängige, transparente und wirksame Ermittlungen zu den Vorfällen bei den Demonstrationen durchzuführen. Darüber hinaus haben wir vereinbart, eng zusammenzuarbeiten für eine positive Entwicklung Georgiens in der europäischen Familie. Die aktuelle Situation macht die Arbeit der Zivilgesellschaft viel schwieriger. Ich hoffe, dass der Besuch positive Wirkungen zeigen wird. Es handelt sich jedoch um einen Prozess, ich bin nicht naiv.
Vor einigen Wochen sind Sie aus der Ukraine zurückgekehrt. Welche Eindrücke haben Sie von dort mitgenommen?
Ich war zum dritten Mal innerhalb eines Jahres in der Ukraine, zum ersten Mal bin ich mehrere Tage geblieben. Die 100 Mitarbeitenden in unserem Büro, die für den Europarat in Kiew arbeiten, erleben jeden Tag den Horror des Krieges. Es darf keine Straflosigkeit geben, und es braucht ein System, das dies sicherstellt. Alle Kriegsverbrechen müssen rechtlich aufgearbeitet werden. Wir sind eine Organisation, die hier etwas tun kann. Wir haben im Europarat ein Schadensregister entwickelt, das schon über 13’000 Schäden registriert hat. So kann man später Wiedergutmachung verlangen.
Woher soll das Geld kommen? Russland ist vom Europarat ausgeschlossen worden.
Zu Recht! Eine solche Arbeit in der Ukraine ist nur möglich, wenn Russland nicht mehr Mitglied ist. Woher das Geld kommt, ist momentan noch ein Diskussionspunkt. Es gibt viele eingefrorene Vermögenswerte in ganz Europa, aber das wird eine schwierige Diskussion sein, das wissen wir. Wir werden jetzt einen vollen Kompensationsmechanismus inklusive des Schadensregisters aufbauen. Hier brauchen wir auch die Unterstützung der G7-Staaten.
In der Schweiz wird jetzt darüber diskutiert, ob man nicht mehr allen Ukrainern und Ukrainerinnen den Schutzstatus S erteilen soll, sondern nur noch jenen Leuten aus Regionen, die von Russland besetzt sind oder in denen Kampfhandlungen stattfinden. Das muss Sie aus menschenrechtlicher Sicht doch stören?
Die Antwort auf diese Frage müsste der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) geben, sollte in der Zukunft eine entsprechende Beschwerde dort eingehen. Aber ich war vor ein paar Wochen in der Ukraine. Ich habe mehrfach Luftangriffsalarme erlebt, bei Tag und während der Nacht. Das ganze Land ist in einem Krieg gegen die Atommacht Russland verwickelt. Das ganze Land, nicht nur ein Teil. Es gibt im Moment keine sicheren Gegenden in der Ukraine.
Bleiben wir in der Schweiz. Wenn man in der Schweiz etwas vom Europarat hört, ist es meistens negativ. Sei es, weil sein Gericht die Schweiz verurteilt, weil sie zu wenig gegen den Klimawandel macht, oder weil Ihre Organisation mehr Engagement gegen Korruption verlangt.
Sie erwähnen jetzt hier aber auch nur die negativen Stimmen. Viele Leute sind froh um das, was wir hier machen. Ich war als Bundesrat oft konfrontiert mit Entscheiden des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Aber ich habe es immer positiv gesehen. Als Anstoss, dass die Menschenrechte eines Mitbürgers verletzt wurden. Ich musste im Bundesrat sagen: «Oh shit, hier läuft etwas nicht gut.» Und dann haben wir das korrigiert.
Oft werden Entscheide lange nicht umgesetzt, zum Beispiel bei der Witwenrente.
Da stimme ich nicht zu. Ich war damals als Innenminister für die Gesetzesanpassung verantwortlich und habe rasch damit begonnen. Aber natürlich braucht es Zeit, um eine stabile Lösung zu entwickeln.
Aktuell läuft der politische Prozess, Links-Grün kritisiert die Abbaupläne, SVP-Präsident Marcel Dettling fordert einen Deal. Auch ein Absturz der Reform scheint nicht ausgeschlossen.
Das ist der parlamentarische Prozess, das gehört dazu. Es kann auch ein Referendum geben, das ist legitim. Aber wenn am Ende die Leute entscheiden, gilt das. Das Urteil hat dazu geführt, dass man darüber diskutiert, und das ist ein positiver Anstoss.
Auch beim Klima-Urteil stellt sich die Schweiz auf den Punkt, dass man das Urteil bereits erfülle.
Über die Umsetzung von Urteilen des EGMR wacht das Ministerkomitee des Europarats. Die Schweiz hat nun einen Bericht eingereicht. Dieser wird dort behandelt, und es wird eine Diskussion gegeben. Es ist selten eine Schwarz-weiss-Entscheidung.
Aber schadet es nicht dem Ansehen des Gerichts, wenn die Schweiz genauso verurteilt wird wie Russland, das einen anderen Menschenrechtsstandard hat?
Oh, das können die Leute schon unterscheiden. Es ist auch nicht vergleichbar, wenn man zu schnell fährt auf der Autobahn und nichts passiert oder wenn man einen Menschen tötet.
Als Bundesrat konnten Sie Entscheidungen fällen und regieren. Waren Sie dort nicht viel mächtiger?
Ich habe im Bundesrat zwölf Jahre lang mit Leidenschaft gearbeitet und alles für unser Land gegeben, was ich konnte. Aber jetzt versuche ich nicht, das Gleiche auf europäischer Ebene zu tun. Ich habe ein neues Kapitel aufgeschlagen. Als Generalsekretär führe ich eine multilaterale Organisation und will sie weiterentwickeln. Ich arbeite nicht mehr wie früher in einem Kollegium. Doch gleichzeitig gibt es 46 Mitgliedstaaten, eine riesige Vielfalt an Sprachen und Kulturen. Das ist sehr vielfältig und macht es extrem interessant – aber auch nicht weniger kompliziert.
Zurück zur Villa: Ist sie denn schon eingerichtet?
Ich habe nichts verändert und dürfte es auch nicht! Sie ist vor allem ein Arbeitsort und als solcher eingerichtet. Schliesslich musste ich mit Vollgas mit der Arbeit beginnen. Und ich bin auch nicht so oft in Strassburg, war stattdessen in New York, Luxemburg, Baku, Kiew oder Tiflis – und natürlich bin ich auch noch viel in der Schweiz. Weihnachten habe ich dort gefeiert.