Richter Andreas Zünd (66) mag seine Robe nicht. Umständlich klaubt er Knöpfe und Reissverschlüsse zusammen, dreht die Schärpe über der linken Schulter. Seit zwei Jahren ist er Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Seit zwei Jahren trägt er die Robe. «Sie schafft Distanz. Das ist vor einem Gericht nicht nötig. Alle sollten auf der gleichen Stufe sein», sagt Zünd.
Der EGMR in Strassburg hat die Schweiz schon mehrfach verurteilt: Zuletzt als Geflüchtete, die Sozialhilfe beziehen, ihre Familien nicht in die Schweiz holen durften. Oder weil sich für die intersexuelle Mittelstrecken-Läuferin Caster Semenya (32) kein Gericht fand, das ihre Diskriminierung effektiv prüfte.
Darüber hinaus besteht noch die Klage der Klimaseniorinnen. Sie wollen, dass die Schweiz mehr für den Klimaschutz macht. Ein Urteil soll gegen Ende Jahr fallen – bis dahin werden keine Fragen beantwortet. Doch Richter Zünd wird mitentscheiden.
Wie fühlt es sich an, die Schweiz zu verurteilen?
Andreas Zünd: Ich fühle mich dabei nicht schlecht. Es mag eine Verurteilung sein. Aber jedes Urteil ist ein Gewinn für die Schweiz, weil es das Recht voranbringt.
Wie profitiert die Schweiz, wenn sie verurteilt wird?
Ich erinnere mich an einen Fall, bei dem es um das Sorgerecht getrennter Eltern für ihr Kind ging. Drei Schweizer Gerichte hielten es nicht für nötig, den Vater persönlich anzuhören. Sowas geht nicht. Solche Urteile sind eine kleine Sache für die Schweiz. Aber die Menschen müssen das Gefühl haben, dass die Richter sie ernst nehmen.
Sind Fälle, an denen die Schweiz beteiligt ist, spezieller für Sie?
(Zögert lange) Natürlich stehe ich dem eigenen Land nahe. Aber das beeinflusst den Entscheid nicht. Ich will mit jedem Urteil die Geltung der Menschenrechte verbessern.
Rund 270 Fälle mit Schweizer Bezug kommen jährlich vor den EGMR. Die meisten werden abgeschrieben, nur wenige kommen vor eine Kammer. Darin sitzt dann jeweils auch der Schweizer Vertreter. Er muss die restlichen Richter über die Situation im Land informieren. Und darf dann mitentscheiden.
Den Grossteil seiner Entscheide fällt Zünd über andere Länder. Sein Alltag besteht aus Aktenstudium im Büro, jenseits des Flusses Ill sieht man den Sitz des EU-Parlaments. Der Tisch ist von Papier übersät, der Computerbildschirm hingegen bleibt schwarz. Zünd mag es nicht, am Bildschirm zu arbeiten.
Dass er als glänzender Jurist gilt, hat sich früh gezeigt. Bereits in seinem ersten Anwaltspraktikum führte er vor Gericht einen Fall allein – obwohl das Gesetz solche Einsätze damals verbot. «Das hat ganz schön für Ärger gesorgt.» Zünd ist Vollblutjurist, der sogar seine vegane Ernährung mit der Bundesverfassung begründet – Artikel 120 Absatz 2, die «Würde der Kreatur».
Zum unparteiischen Richter scheint nicht zu passen, dass Zünd SP-Mitglied ist. Kritiker nennen ihn einen Aktivisten, für die SVP ist er eine Reizfigur, weil er als Bundesrichter die Menschenrechtskonvention über die Bundesverfassung stellte. Das Urteil, um das es damals ging, war ein Auslöser für die Selbstbestimmungs-Initiative. Politisch seien seine Urteile aber nicht.
In Ihrer Zeit am Bundesgericht haben Sie die Ausschaffung eines kriminellen Mazedoniers aufgehoben und damit die Ausschaffungs-Initiative ignoriert.
Das war kein politischer Entscheid. Wir haben einfach festgehalten, dass die Schweiz die Menschenrechtskonvention unterzeichnet hat – und dass diese somit auch für Schweizer Gerichte gilt. Das bedeutet, dass die Gerichte eine Einzelfallbeurteilung vorzunehmen haben.
Wie beeinflusst Ihre Parteimitgliedschaft Ihre Entscheide?
Ich teile die Werte der SP. Im Gerichtssaal ist die Partei jedoch kein Thema, ich bin ihr nicht verpflichtet. In der Schweiz muss man fast Mitglied einer Partei sein, um einen Richterposten zu ergattern. In Strassburg ist man damit ein Exot.
Sie äussern sich trotzdem politisch – und haben den Streitschlichtungs-Mechanismus im geplanten Rahmenabkommen kritisiert.
Ich habe mir lange überlegt, ob ich mich dazu äussern soll. Ich bin ein Richter, die Frage betrifft spezifisch die Justiz. Ich habe auch nicht gesagt, ich sei für oder gegen ein Rahmenabkommen, sondern habe nur den Mechanismus kritisiert, der die Schweizer Richter schlechter stellt.
Politisiert wurde Zünd am Stammtisch im Restaurant Engel in Niederwil AG. «Vielfach war ich alleine mit meiner Position», erinnert er sich. «Es war eine gute Schule.»
Zünd wohnt in Strassburg, in der Schweiz ist er nur noch für Vorträge. Ein «fremder Richter» sei er aber nicht. «Ich bin ein Schweizer Bürger. Und ich bin nicht abgeschottet, im Gegenteil, ich bekomme viele Besuche aus der Heimat.» Wie zum Beweis zeigt er ein gelbes Kartenspiel vor, das ihm eine Besuchergruppe aus dem Kanton Uri geschenkt hat.
Das Recht ist für Zünd mehr als nur ein Job. Das spürt man, wenn er in gebückter Haltung über vergangene Fälle doziert und dabei von der Meinungsäusserungsfreiheit in Bulgarien bis zur Videoüberwachung in Russland springt. Man merkt: Es ist Zünd wichtig, dass Gerichte für alle zugänglich sind. Doch der Weg zum Recht ist steinig.
Viele Menschen in der Schweiz können sich den Gang vor ein Gericht nicht leisten.
Gerichtsgebühren und Anwaltskosten sind ein hohes Hindernis. In der Schweiz gibt es die unentgeltliche Rechtspflege, das mildert es etwas. Aber für die Menschen in der Mittelschicht ist es eine extrem teure Sache.
Zuletzt hat Ihr Gericht die Schweiz deswegen aber geschützt.
In dem Fall ging es um einen Dieb. Alle Schweizer Gerichte verweigerten ihm die unentgeltliche Rechtspflege. In Strassburg waren die Richter damit nicht einverstanden. Trotzdem haben sie Beschwerden abgewiesen, weil der Anwalt den Beschuldigten nicht hat hängen lassen und weiter für ihn gearbeitet hat. Persönlich fand ich das nicht richtig. Der Staat soll seine Aufgabe nicht auf die Anwälte abschieben, und vor allem: Jeder soll ein faires Verfahren bekommen.