Als sich der Zug in Bewegung setzt, applaudiert Oda Müller (78). «Jetzt gibt es kein Zurück mehr!» Die Klimaseniorinnen sind auf dem Weg zum Menschenrechtsgerichtshof in Strassburg, wo sie die Schweiz verklagen.
Ihr Argument: «Die Schweiz macht zu wenig für den Klimaschutz», sagt Müller. Die Folgen des Klimawandels, insbesondere Hitzewellen, würden gerade die Seniorinnen besonders treffen. Jetzt soll das Gericht verbindliche Ziele festlegen, damit die Schweiz mehr unternimmt, um das Klima zu schützen.
Car? Viel zu umweltschädlich!
Dass der Zug mit den rund 25 Klimaseniorinnen nun nach Strassburg fährt, ist nicht selbstverständlich. In Frankreich wird gestreikt. Ob die Bahn fährt, war bis wenige Stunden vor der Abfahrt unklar. Einen Car für die Reise zu mieten, kam nicht infrage – viel zu umweltschädlich.
Mit ihrer Klage gingen sie bereits bis vors Bundesgericht – und scheiterten. Ihre letzte Hoffnung liegt im Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Am Mittwoch ist es soweit. «Ich bin nervös, freudig und angespannt», sagt Müller. Kein Wunder: Sieben Jahre lang dauerten die Vorbereitungen.
Erster Klima-Fall
Es ist das erste Mal, dass der EGMR eine Klimaklage öffentlich beurteilt. Das Gericht wählte den Schweizer Fall als einen von drei Fällen aus und behandelt ihn prioritär. Heisst: Statt wie in anderen Fällen jahrelang auf einen Gerichtsentscheid zu warten, berät die Grosse Kammer mit 17 Richterinnen und Richtern am Mittwoch über den Fall.
Die Klimaseniorinnen sehen ihr Recht auf Leben bedroht. Sie wollen, dass das Gericht die Schweiz anweist, mehr im Kampf gegen den Klimawandel zu machen.
Die Schweiz stellt sich dagegen. Auf knapp 50 Seiten legt der Bund dar, dass der EGMR nicht zuständig sei für Klimaschutzfragen, die demokratische Debatte dürfe nicht umgangen werden. Zudem seien die Seniorinnen nicht speziell vom Klimawandel betroffen.
«Ich war eine Mit-Verursacherin»
Die Stimmung im Zug ist gut, fleissig üben die Seniorinnen Lieder für einen Auftritt vor dem Gerichtsgebäude. Währenddessen leuchten hinten die Kameras von Fernsehteams aus ganz Europa. Die Klage ist orchestriert von Greenpeace. Der Umweltverband organisierte Anwälte und half beim Aufbau des Vereins Klimaseniorinnen. Gesucht waren speziell ältere Frauen, weil diese besonders unter der Hitze leiden.
Oda Müller ist seit 2016 dabei. «Es ist mir eingefahren, wie stark uns der Klimawandel einschränken wird», sagt sie. «Ich mache das auch für meine Kinder und Enkelkinder.» Müller sieht sich selbst nicht unschuldig am Klimawandel. «Ich war eine Mit-Verursacherin», gibt sie sie zu. Das habe sich geändert. «Ich habe mein Auto verkauft und fliege nicht mehr.»
Ähnliche nationale Urteile
Doch das Engagement einzelner genügt nicht mehr, um den Klimawandel zu stoppen. Deshalb soll jetzt der Bund handeln. «Ich bin sehr optimistisch, dass uns das Gericht recht gibt», sagt sie.
Tatsächlich gab es in jüngerer Vergangenheit nationale Urteile, die im Sinne von Klimaaktivisten ausfielen. 2021 entschied das deutsche Bundesverfassungsgericht, dass die aktuellen Klimaziele nicht genügen, um die Rechte der künftigen Generation zu schützen. Geklagt hatte die Klimajugend. Die Klimaseniorinnen schöpfen zudem Hoffnung aus ähnlichen Fällen in den Niederlanden, Belgien und Frankreich. Dort wurde entschieden, dass Staaten mehr für den Klimaschutz machen müssen.
Schwierige Prognose
Trotzdem: Dass am Mittwoch auch das Gericht in Strassburg im Sinne der Klimaschützerinnen entscheidet, ist nicht gesagt. Möglich, dass das Gericht nur anweist, das Schweizer Bundesgericht müsse sich erneut mit dem Fall beschäftigen – oder die Klage ganz abweist. Ein Urteil wird frühestens im Herbst erwartet.
Bei der Ankunft in Strassburg wartet auf Oda Müller die nächste Kamera. Das Interesse an den Seniorinnen ist riesig. Das Schweizer Klima-Grosi wirkt überwältigt vom Andrang. Für sie geht es jetzt zuerst ins Hotel. Dann warten weitere Interviews, letzte Besprechungen – und hoffentlich etwas Schlaf. «Normalerweise bin ich eine Langschläferin», sagt sie zum Abschied. «Aber nicht an so einem Tag.»