Milena Moser über Entschleunigung im Alltag
Der alte Cowboy und ich

Ein Dokumentarfilm über einen alten mexikanischen Farmer, der sich seinen Lebenstraum erfüllt und 300 Kilometer auf einem Maulesel durch die Hochwüste reitet, und ein Gespräch über erzwungene Entschleunigung.
Publiziert: 10.06.2024 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 08.06.2024 um 10:40 Uhr
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Der Dokumentarfilm «La Recua», in dem ein alter Cowboy eine Reise in die Hochwüste wagt, bringt Bestsellerautorin Milena Moser zum Nachdenken.
Foto: Alejandro Rivas Sanchez
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Milena MoserSchriftstellerin

«Tut mir leid, Eselchen», entschuldigt sich der alte Mann bei seinem Reittier. Er hat nur gerade einen Armvoll frischer grüner Blätter zum Abendessen gefunden. Don Dario, ein krummbeiniger Ranchero, der sein Leben im Sattel verbracht hat, hat es sich in den Kopf gesetzt, den Spuren seiner Vorfahren zu folgen und auf einem alten Maultierpfad durch die Baja California zu reiten. 300 Kilometer durch unwirtliches Gelände, auf steilen, steinigen Pfaden, voller Disteln und Kakteen. Zwanzig Tage wird die Reise dauern. Er mobilisiert Söhne und Enkelkinder – und eine kleine Filmcrew. Monatelang bereitet er sich vor, gerbt Ziegenleder in Holzlauge, um daraus die traditionellen Mäntel zu nähen, die selbst die fiesesten Kakteenstacheln nicht durchdringen. Er füllt Wein, Ziegenkäse und Datteln in Satteltaschen ab, belädt einen ganzen Zug von Maultieren und Packeseln – und dann wird er krank. Bronchitis. Seine Familie bringt ihn in die nächste Klinik, er kriegt Antibiotika verschrieben. Und reitet trotzdem los, allen guten Ratschlägen zum Trotz. Unterwegs wird er von Hustenanfällen geschüttelt, er muss absteigen, sich ausruhen. Später plagen ihn Krämpfe, vor Schmerzen gekrümmt sitzt er auf seinem Maultier. Doch als er sich zum Schlafen auf seiner Satteltasche einrichtet und in den endlos weiten Sternenhimmel schaut, sagt er: «Ich hätte nie geglaubt, dass ich einmal so glücklich sein würde.» 

Während der Abspann läuft, auf dem auch sämtliche Last- und Reittiere mit Namen genannt werden, nehme ich im Dunkeln Victors Hand. Der alte Mann im Film und er sind sich ähnlich, in ihrer stoischen Tapferkeit und unbeirrbaren Lebenslust. Und die beinahe hypnotische Bedächtigkeit des Films führt uns zu einem angefangenen Gespräch zurück, über die automatische Verlangsamung unseres Alltags, die Victors Gesundheitszustand einfordert. Er hasst es, es entspricht nicht seiner Natur. Er hat immer gern drei Dinge gleichzeitig erledigt, die Nächte durchgearbeitet, sich verausgabt. Es ist nicht ganz einfach, das auszusprechen, ohne zynisch zu wirken, aber ich kann dieser erzwungenen Entschleunigung durchaus etwas abgewinnen. Selbstverständlich wünschte ich, Victor müsste nichts von all dem ertragen, keine Schmerzen leiden, keine Rückschläge erfahren, keine Einschränkungen in Kauf nehmen. Ich würde alles geben, um ihm das abzunehmen. Aber es ist nun mal so, wie es ist, und immer wieder entdecke ich in diesen Einschränkungen auch Zwischenräume, von denen ich nichts wusste.

Manchmal fühlt es sich an, als wären wir aus der Welt gefallen. Als rauschte die Hektik des «normalen Lebens» an uns vorbei wie ein reissender Fluss. Und wir sitzen irgendwo auf einem Stein, halten uns an einer Wurzel fest. Wir sind gestrandet, aber wir sind noch da. Wir sehen das Licht auf den Wellen und das Moos an den Steinen, die fast durchsichtigen Fischschwärme und die Insekten, die auf der Wasseroberfläche tanzen. In diesen Momenten gibt es nichts zu leisten und nichts zu erreichen. In diesen Momenten liegt auch eine nie gekannte Süsse. Und dann reisst uns der Fluss wieder ein Stück weit mit. 

Ich denke an den kleinen Ramoncito im Film, den zehnjährigen Enkel, an seine schiere Freude, mit seinem Grossvater durch diese wilde Landschaft zu reiten. Er singt laut. «Alles ändert sich», singt er. «Ich ändere mich, und alles ändert sich.» 


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