Milena Moser über Selbstsicherheit mit dem Älterwerden
Bunter Vogel Freiheit

Frauen in meinem Alter beklagen oft, dass sie nicht mehr sichtbar sind, nicht mehr wahrgenommen werden, geschweige denn ein Lächeln oder ein Kompliment bekommen. Das kann ich nicht bestätigen – aber ich lauf ja auch wie ein bunter Papagei durch die Gegend.
Publiziert: 22.04.2024 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 20.04.2024 um 10:23 Uhr
Schriftstellerin Milena Moser (60) schreibt für Blick über das Leben. Sie ist Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Der Traum vom Fliegen».
Foto: Barak Shrama Photography
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Milena MoserSchriftstellerin

Auf der anderen Strassenseite kommt mir eine alte Freundin entgegen. Ich sehe sie von weitem, sie mich auch. Sie lächelt und überquert die Strasse. Dann bleibt sie vor mir stehen. «Ach, das bist ja du!», ruft sie erstaunt, bevor sie mich umarmt.

«Was hast du denn gedacht?» Und warum ist sie so strahlend auf mich zugekommen, wenn sie mich gar nicht erkannte?

«Ich hab einfach deine bunten Kleider gesehen und wollte dir ein Kompliment machen.»

Wir setzen uns kurz auf das Bänkchen an der Bushaltestelle und reden weiter. Sie habe es sich zum Ziel gemacht, jeden Tag mehrere Komplimente zu verteilen, sagt meine Freundin. Dafür wechselt sie auch schon mal die Strassenseite. «Es sind vor allem Frauen, die mir auffallen», sinniert sie. «Frauen in unserem Alter.» Dann geht sie weiter, ich bleibe sitzen und denke nach. Es stimmt. Je älter ich werde, desto mehr Komplimente bekomme ich. Nicht, weil ich besser aussehen würde als früher, aber definitiv fröhlicher, unbeschwerter – und bunter. Das fällt mir auch bei anderen Gleichaltrigen auf. Wir werden lustiger, mutiger vielleicht oder einfach gelassener. Nicht unsichtbar. Definitiv nicht unsichtbar!

Aber die Frauen, die sich darüber beklagen, vermissen vermutlich eine andere Art von Aufmerksamkeit. Es sind Frauen, die es gewohnt waren, die Blicke auf sich zu ziehen. «Vermisst du das nicht, dass du einen Raum betrittst und alle schauen dich an?»

Nein, beim besten Willen nicht. Wenn das überhaupt je passiert ist, nahm ich automatisch an, ich hätte was falsch gemacht. Zahnpasta auf dem Pullover, Lippenstift auf den Zähnen. Als ich jünger war, wollte ich alles, nur nicht auffallen. Ich wollte so sein wie alle anderen. Und brauchte ziemlich lange, um zu sehen, dass es «alle anderen» nicht gibt. Nicht als homogene Masse. Wir sind alle einzigartig. Und finden das nicht immer einfach. 

Mein Bus kommt, ich steige ein. Ein paar Stationen weiter sehe ich aus dem Fenster eine Märchengestalt in einem türkisfarbenen Seidenmantel und einem federgeschmückten Hut auf den leuchtend rot gefärbten Haaren. Es ist La Lupa, die Sängerin. Und ich erinnere mich, wie sie mir als junge Frau schon aufgefallen war. Ich arbeitete damals in einer Buchhandlung in der Zürcher Altstadt. Fast täglich ging sie dort vorbei, gelassen, majestätisch, als sei sie sich der Blicke nicht bewusst, die ihr folgten. Sie irritierte mich: Warum machte sie sich so auffällig zurecht? Hatte ihr niemand gesagt, dass Schwarz Mode war? Dabei bildete ich mir ein, mich nicht um Vorschriften und gängige Modeideale zu kümmern. Aber unbewusst achtete ich sehr darauf, dieselbe Jeansmarke wie meine Freundinnen zu tragen, dieselben Schuhe, denselben Haarschnitt. Ich tat alles, um dazuzugehören. 

Auch das ist eine der vielen Erleichterungen des Älterwerdens: Die Angst davor, aufzufallen, aus der Reihe zu tanzen, verschwindet. Nicht aus Trotz, nicht aus Widerstand. Es ist eher eine sanftmütige Einsicht: Ich bin nun mal die, die ich bin. Ich kanns nicht ändern. Und ich will es auch nicht. 

Der Bus fährt an der buntgekleideten Künstlerin vorbei, ich drehe mich im Sitz um, um ihr noch etwas länger nachzuschauen. Sie scheint noch exakt dieselbe wie vor all diesen vielen Jahren. Ich hingegen, ich bin eine andere geworden, oder vielmehr mich selbst.

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