Der kleine Junge hüpft auf dem Sofa auf und ab und ruft: «Ich wett, ich wett, ich wett ...»
In der vorausgegangenen Diskussion mit seinem Vater waren ihm gerade zwei Wünsche hintereinander abgeschlagen worden, jetzt überlegt er hüpfend, was er sonst noch verlangen könnte. Dabei geht er nach neusten Studien, die körperliche Bewegung mit brillanten Einfällen verbinden, genau richtig vor. Und doch bleibt es bei diesem unspezifischen «Ich wett, ich wett».
Ohne zu überlegen, ergänze ich fröhlich: «Ich wett, ich hett es Häppy Bett!» Einen Moment lang ist es still. Der Junge erstarrt auf dem Sofa, seine Eltern schauen mich mit dieser Mischung aus Nachsicht und Besorgnis an, die etwas schrägen älteren Verwandten vorbehalten ist.
«Sorry», murmle ich verlegen. Keine Ahnung, wo das wieder herkam! Na, aus der Kindheit, aus der Fernsehwerbung. Aber warum weiss ich das noch? Und dafür nicht mehr, wie die Frau hiess, die zwei Tage zuvor am Büchertisch stand und mir ein Buch zum Signieren hinhielt.
«Kennst du mich denn nicht mehr?»
«Ähhhh ...»
Meine Freundinnen behaupten, das sei normal, da müsse ich mir keine Sorgen machen. Was natürlich nur beweist, dass es ihnen genau gleich geht. Ausserdem ist das Vergessen ja nur das eine. Das andere ist der Schrott in meinem Kopf.
Neulich spazierte ich in Zürich am Sihlufer entlang, ganz in Gedanken versunken. Oft fallen mir beim Spazierengehen Sätze ein, einer nach dem anderen, sie reihen sich aneinander, verknüpfen sich. Als würden sich die Worte im Rhythmus meiner Schritte zurechtschaukeln, an ihren Platz finden. Oft gelingt es mir, diese Satzketten unbeschadet nach Hause zu tragen und dort aufzuschreiben. Es ist ein magischer Prozess. Doch dann ruckelte etwas weiter vorne die knallrote Sihltalbahn über die Brücke, und sofort waren all die schönen Sätze aus meinem Kopf verschwunden. Verdrängt von einem wirklich dämlichen Lied über einen Mann namens Bolle, der sterben wollte und sich zu diesem Zweck auf die Schienen der Sihltahlbahn gelegt hat. Doch das Bähnlein hat Verspätung, knapp vierzehn Tage drauf / da fand man uns'ren Bolle als Dörrgemüse auf!
Ich bitte Sie! Nein, wirklich, ich bitte Sie. Dieser nicht doofe, sondern auch leicht verstörende Nonsens breitete sich in meinem Kopf aus, bis nichts anderes mehr dort Platz hatte. Je heftiger ich mich dagegen wehrte, desto lauter wurde das Lied. Wo kam es her? Wo hatte ich diesen unsäglichen Mist aufgelesen? Trotzig stapfte ich weiter, hartnäckig verfolgt von dem lebensmüden Bolle und bald auch von meinem aufsteigenden Ärger über mich selbst. Wo waren die Sätze, die ich schreiben wollte, die Namen, die Gesichter, die Erinnerungen? War ich bald gar nicht mehr zu gebrauchen?
Da tauchte plötzlich meine verstorbene Mutter auf. Wie schon zu Lebzeiten hatte ihre Erscheinung etwas Majestätisches, Respektgebietendes (manchmal durchaus auch Furchteinflössendes). Sofort verzog sich der dumme Bolle, und stattdessen flossen die Zeilen aus einem ihrer Lieblingsgedichte wie kühles, klares Quellwasser durch meinen überhitzten Kopf: Tage, wenn sie scheinbar uns entgleiten, gleiten leise doch in uns hinein …
Auch ein fahriger Spaziergang ist ein Spaziergang, auch ein verflatterter Tag ist ein Tag. So trugen mich diese Zeilen ans andere Ufer hinüber und bis nachhause zurück.