Milena Moser über Ungerechtigkeit
Der ganz alltägliche Rassismus

Eine unsportliche ältere Frau wie ich taugt nicht wirklich zum Bodyguard. Und doch wünsche ich mir oft, ich könnte Victor auf Schritt und Tritt begleiten. Ihn vor der alltäglichen Hässlichkeit beschützen, die ihm so oft entgegenschlägt.
Publiziert: 26.05.2024 um 09:37 Uhr
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Aktualisiert: 27.05.2024 um 09:35 Uhr
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Alltäglichem Rassismus ausgesetzt: Milena Mosers Ehemann Victor-Mario Zaballa, Künstler aus Mexiko.
Foto: Barak Shrama
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Milena MoserSchriftstellerin

Neulich fuhr Victor abends um zehn zum Supermarkt, um Katzenfutter und Milch zu kaufen. Zwei Streifenpolizisten folgten ihm in den Laden und fragten dann den Kassier, ob er den Mann kenne und ob er Alkohol gekauft habe – was wohlgemerkt nicht verboten ist. 

«Vielleicht sollte ich mich wirklich jedes Mal umziehen, bevor ich das Haus verlasse», überlegt er, und mein Herz kriegt einen weiteren Sprung. Genau das liebe ich doch an dieser Stadt, dass niemand mit der Wimper zuckt, wenn ich im Pyjama einkaufen gehe. Aber auch das ist eine Form von weissem Privileg. In den farbverschmierten Latzhosen, die Victor zum Arbeiten trägt, wird er gern für einen Bauarbeiter, Handwerker oder Gärtner gehalten, Tätigkeiten, die oft Einwanderern vorbehalten sind. Das sollte allerdings keinen Unterschied machen, ob Handwerker oder Künstler oder naive Schweizerin, das Recht, abends im Supermarkt einzukaufen, ob Milch oder Rotwein, gilt für alle.

Victor sieht, dass ich mich aufrege, und versucht, mich zu beschwichtigen: «Es war ja nicht so schlimm wie die Sache mit der Frau und dem Hund ...» – und dann schaut er mich schuldbewusst von der Seite an. Die Sache mit der Frau und dem Hund hat er mir bisher erfolgreich verschwiegen.

Vor zwei Monaten, als ich in der Schweiz war, hat er sich bei einem Sturz im Garten am Arm und an der Hand verletzt. Dachte ich. In Wahrheit, erfahre ich jetzt, wurde er von einem grossen Hund umgerannt. Er lief an langer Leine, seine Besitzerin auf dem Fahrrad hinter sich herziehend. «Aus dem Weg!», rief diese, während Victor noch versuchte, sich aufzurappeln. Da hatte sie ihn schon gerammt. Auf dem Trottoir vor dem Quartierzentrum, wohlgemerkt. Sie hätte ihn da auch liegengelassen, doch als sie ihn auf Spanisch fluchen hörte, blieb sie stehen. «Ihr verdammten Illegalen, ihr macht unser ganzes Land kaputt!», schrie sie ihn an. «Was meinst du eigentlich ...»

Ihr Gezeter lockte drei Frauen vom Hundespielplatz heran, die in die Tirade einfielen: «In diesem Land werden Hunde respektiert! Wir sind hier nicht im Dschungel!» Schliesslich mischte sich noch der Fitnesstrainer ein, der etwas weiter unten ein Bootcamp anführte, und stellte richtig, dass ja der Hund Victor umgeschmissen hatte, und nicht umgekehrt. Die Meute zerstreute sich. Victor lag immer noch auf dem Boden. Nachdem er sich aufgerappelt hatte, sass er noch eine Dreiviertelstunde lang in seinem Truck, zitternd, «ich war unter Schock».

Ich bin schon nach dem zweiten Satz in Tränen ausgebrochen. Was vielleicht erklärt, warum er mir solche Dinge nicht gern erzählt. Ich empöre mich über etwas, das für ihn Realität ist, etwas, dem er schon sein ganzes Leben lang ausgesetzt ist. Wenn der Hund mich zu Fall gebracht hätte, wenn die Frau mich in einer fremden Sprache hätte fluchen hören, wäre die Szene anders verlaufen. Das ist eine Tatsache. Und ich hasse es. Ich wünschte, ich könnte die Frau aufspüren, sie zur Rede stellen. Ich wünschte, ich könnte sie zwingen, ihren Fehler einzusehen, Reue zu zeigen, Besserung zu versprechen. Ich wünschte, ich könnte die Welt ändern. Ich wünschte, ich könnte Victor schützen. 

«Verschwende keinen weiteren Gedanken an sie», sagt Victor. «Menschen, die sich so benehmen, leben kein schönes Leben.»

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