Evie hasst den Muttertag. Sie wettert gegen den Kommerz und das rosarote Marketing, gegen das kitschige Mutterbild in einem Land, in dem Vierzehnjährige zur Mutterschaft gezwungen werden, auch wenn sie vergewaltigt und missbraucht wurden. In dem die Gefahr für eine Frau, bei der Geburt zu sterben, höher ist als in vielen Krisengebieten. In einem Land, in dem über eine Million Grossmütter ihre Enkel aufziehen müssen, deren Eltern der Opioidepidemie zum Opfer gefallen sind. «Und dann hast du da diese verwöhnten, reichen weissen Frauen, die ihre Mutterschaft bereuen!», haut sie auf den Tisch. Ich wage nicht, nachzufragen.
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«Das ist so ein neuer Social-Media-Trend», erklärt mir eine andere Freundin später. Maura und ich schauen uns zusammen ein paar entsprechende Filme an und schütteln dann verständnislos den Kopf. Was wir da sehen, sind ganz normale, liebevolle Mütter, denen manchmal alles über den Kopf wächst. Die dann einfach nur noch heulen könnten. Die sich ihr altes, kinderfreies Leben zurückwünschen. Oder auch nur eine Nacht voll Schlaf. (Schlafentzug, dies nur nebenbei, ist eine anerkannte Foltermethode, die nach relativ kurzer Zeit zu physischen und emotionalen Schäden führt.)
«Das ging uns doch damals genau so», sagt Maura. «Ich weiss noch, wie glücklich ich war, für ein paar Stunden in den Laden gehen zu können!» Ich kann ihr nur zustimmen. Ich hatte keinen Laden, dafür eine wiederkehrende Fantasie, den Kinderwagen am Bahnhof stehen zu lassen und in den nächstbesten Zug zu steigen. Allein. Getan habe ich es natürlich nie, auch deshalb nicht, weil ich immer Freundinnen hatte, denen ich so etwas erzählen konnte. Weil ich über solche Gefühle schreiben konnte. Das allerdings brachte mir einen anhaltenden Ruf als Rabenmutter ein, doch damit kann ich leben: Raben sind aussergewöhnlich fürsorgliche Tiere.
Okay, wenn ich ehrlich bin, verletzten mich diese Angriffe damals schon. Sie trafen diesen besonders wunden Punkt, das ewig nagende schlechte Gewissen, das jede Mutter kennt, egal, wie sie lebt, egal, wie sehr sie sich bemüht. Es wird uns bei der Geburt ins Herz gepflanzt. Plötzlich ist nichts auf der Welt wichtiger als dieses kleine Wesen. Nichts möchten wir besser und richtiger machen. Und doch stolpern wir jeden Tag. Über die Realität, über unsere Ansprüche, über die Diskrepanz zwischen diesen beiden Dingen.
Als ich mit meiner Familie nach San Francisco zog, wurde mir zum ersten Mal bewusst, wie viele unterschiedliche Arten es gibt, Mutter zu sein. Mutterschaft, Familie: Diese Begriffe sind keine starren Rahmen, die nur vorgefasste Bilder fassen. Sie sind ein Kaleidoskop, ständig in Bewegung und voller schimmernder, funkelnder Möglichkeiten.
Damals lernte ich auch den Begriff der «good enough mother», der gut genugen Mutter, kennen und verstand, dass wir alle, auf unsere eigene Weise, unser Bestes versuchen und immer wieder daran scheitern. Und dass das okay ist. Diese Vorstellung scheint sich nicht durchgesetzt zu haben. Im Gegenteil, die Ansprüche und Vorstellungen davon, was eine gute Mutter ist, was sie fühlt und wie sie aussieht, explodieren auf allen Kanälen.
Es sind diese Bilder, die uns zum Verhängnis werden, das sagte meine Mutter schon immer. Die Bilder in unseren Köpfen und in denen der anderen. Sie fand den Muttertag verlogen. Ich hingegen, ich habe mich immer über Blümchen und selbst gebastelte Karten gefreut. Aber einen Gutschein für einen unkommentierten Heulkrampf hätte ich schon auch genommen.