Neulich waren wir zum Abendessen bei einer neuen Bekannten eingeladen, einer Musikerin mit italienischen Wurzeln, die ausserdem mit einer Französin verheiratet ist. Wir freuten uns den ganzen Tag auf die Köstlichkeiten, und tatsächlich roch es schon im Treppenhaus verführerisch nach Knoblauch, der im Olivenöl angebraten wurde. Ein Duft, der meist Pasta in irgendeiner Form verspricht. Etwas, was ich jeden Tag essen könnte.
Milena Moser
Die Gastgeberinnen schenkten Wein ein, wir diskutierten dieses und jenes, wie gesagt, wir kannten uns noch nicht sehr gut. Mir gefiel, wie sie sich in der Küche bewegten, sich mit wenigen Worten verständigten, eine eingespielte Choreografie. Doch dann holten sie die Küchenwaage hervor. Sie steckten die Köpfe zusammen, tuschelten und diskutierten. Jede Zutat wurde sorgfältig abgewogen, sogar die Spaghetti. Sorgfältig legten sie die Teigwaren auf die glatte Oberfläche, von der sie sofort wieder herunterzurollen drohten. Wie Mikadostäbe wurden sie einzeln herausgepflückt und in die Packung zurückgeschoben, bis endlich die gewünschte Menge erreicht war. Sie kam mir sehr gering vor.
«Was macht ihr denn da?», fragte ich neugierig, obwohl ich es ja sehen konnte. «Warum macht ihr das?», wollte ich eigentlich fragen, doch das war dann doch etwas zu persönlich. Vielleicht wollten sie abnehmen oder mussten ihren Blutzuckerspiegel regulieren. Die Gastgeberinnen nahmen die Frage nicht übel: «Oh, wir messen alles ab», sagte die eine. «Kochen ist eine echte Wissenschaft!», die andere. Und dann folgte ein längerer Vortrag über die Zusammensetzung der Zutaten, ihre Menge und Proportionen und deren Auswirkungen darauf, wie die entsprechenden Nährstoffe vom Körper aufgenommen werden. Studien wurden zitiert, die Darmflora und das Mikrobiom beschrieben, und bald hatten wir den Appetit verloren, was angesichts der kleinen Portionen auch nicht weiter schlimm war.
Als wir nach Hause kamen, ging Victor schnurstracks in die Küche und zündete noch in Jacke und Hut den Gasherd an. «Quesadilla?», fragte er mich über die Schulter hinweg, eine rhetorische Frage.
Unwillkürlich dachte ich an einen anderen Abend in der Schweiz, an dem mir die Küchenwaage die Laune verdorben hatte. «Ich hoffe, du magst Teigwaren», hatte meine Bekannte gesagt und ich hatte begeistert bejaht. Doch dann stellte sich heraus, dass sie diese nicht aus Leidenschaft, sondern aus Kostengründen zubereitete. Und sie genauso pingelig abwog und zählte wie die beiden Frauen in San Francisco. Allerdings nicht aus wissenschaftlichem Interesse, sondern aus rechnerischen Gründen.
Denn es stellte sich heraus, dass nicht alle Kinder, die an diesem Abend mit uns am Tisch sassen, ihre eigenen waren. Das kam offenbar öfter vor, öfter jedenfalls als umgekehrt. Etwas verbittert rechnete sie es mir vor, jonglierte mit Prozentsätzen und Frankenbeträgen und kam auf eine recht beachtliche Summe, die die kleinen Gäste sie bereits gekostet hatten. Mir blieb die Pasta im Hals stecken, als hätte ich Geldstücke herunterzuschlucken versucht.
Auch an diesem Abend ging ich hungrig nach Hause, und auch etwas traurig. Ich dachte an Victor, dem ich das gar nicht erzählen konnte. Er würde es nicht verstehen. Er lässt niemanden aus dem Haus, ohne etwas zu essen anzubieten. «Eine kleine Quesadilla?» Die Antwort wartet er gar nicht erst ab. Rhetorische Frage, wie gesagt.