Vor ein paar Tagen stand ich mit einem etwas komplizierten Anliegen am Postschalter. Es war bereits mein dritter Anlauf, einmal war die kleine Schalterhalle zu voll gewesen, als dass ich die Wartenden mit meinem Problem aufhalten wollte, ein andermal stand das Gebäude unter Wasser.
Das amerikanische Postwesen hat sich noch nicht von der Sabotage des letzten Präsidenten erholt, der kurz vor Ende seiner Amtszeit landesweit die halbe Belegschaft entliess, Sortiermaschinen und öffentliche Briefkästen entfernte und einen komplett branchenfremden, mit ihm befreundeten Geschäftsmann an die Spitze setzte. Seither kann man nicht mehr «einfach schnell» an den Schalter gehen.
Jedenfalls, ich stand also in unserer maroden, kleinen Quartierpoststelle und diskutierte mit einer jungen Schalterbeamtin, ob mein Anliegen durchführbar sei und wie. Ich füllte Formulare aus und klebte Couverts zu und bezahlte dann einen erstaunlich hohen Betrag dafür.
«Danke, dass Sie so nett zu mir waren», sagte die junge Frau, als sie mir die Quittung reichte.
Nett? Ich war nicht besonders nett gewesen. Nur höflich.
«Ist doch selbstverständlich, Sie haben mir ja geholfen», murmelte ich verlegen.
«Überhaupt nicht selbstverständlich», wiederholte sie. Als sie dann noch «Gottes Segen» nachschob, verliess ich das Gebäude fast fluchtartig, erschüttert und auch beschämt.
Und dann fiel mir Cleo ein, die San Francisco einmal als die «Hauptstadt der Selbstgerechten» bezeichnet hatte. Die Pflegefachfrau hatte Victor während seines letzten Krankenhausaufenthalts betreut, eine lebenslustige junge Frau mit raspelkurzen, platinblond gefärbten Locken, die das Zimmer meist tänzelnd betrat. Sie tat alles, um Victor den Aufenthalt angenehmer zu gestalten. Wir unterhielten uns oft miteinander, und als Victor entlassen wurde, umarmte sie ihn: «Danke, dass Sie mich nie angebrüllt haben!»
Angebrüllt?
Da brach es aus ihr heraus: Als «travel nurse», die bei Pflegenotständen temporär eingesetzt wird, ist sie überall in den Staaten herumgekommen, hat schon vieles gesehen und erlebt, aber «so schlimm wie hier wurde ich noch nirgends behandelt!»
«Nicht einmal im Süden?», rutschte mir heraus. Cleo war in Georgia aufgewachsen, hatte sie mir erzählt, einem Bundesstaat, den ich als Europäerin sofort mit Sklaverei, Bürgerkrieg, Rassismus assoziiere.
«Rassismus gibt es überall», erklärte Cleo. «Aber in San Francisco herrscht eine Anspruchsmentalität, wie ich sie nirgendwo sonst erlebt habe. Die Leute haben einfach zu viel Geld! Sie meinen, sie können sich alles erlauben.» Täglich wurde sie beschimpft, bedroht, heruntergemacht und sogar mit Gegenständen beworfen. Dies nicht etwa von Unbehausten oder Suchtmittelabhängigen, die in den Medien gern für San Franciscos Untergang verantwortlich gemacht werden, sondern von gutverdienenden Techies, die in einem notorisch zynischen Umfeld arbeiten und «Leute wie uns gar nicht mehr als menschliche Wesen wahrnehmen».
Leute wie uns: Dienstleistende. Durchschnittsverdiener. Aussenseiter. Andere.
Die Dankbarkeit der Postbeamtin für mein gerade mal höfliches Verhalten beschäftigt, beschämt mich. Ich rede mit Victor darüber, mit Freundinnen, alle haben ähnliche Erfahrungen. Wir sind uns alle einig, dass wir Gegensteuer geben müssen. «Wir rufen den Aufstand der Freundlichkeit aus!», sagt jemand.
Und wenn ich das nächste Mal zur Post gehe, bringe ich Kuchen mit.