Zoodirektor Severin Dressen
Verlust der Artenvielfalt

Als Kind musste Severin Dressen die Windschutzscheibe nach einer längeren Autofahrt von Hand schrubben, weil so viele tote Insekten dran klebten. Heute findet sich da kaum was. Der Zoodirektor weist auf die alarmierende Krise der Biodiversität hin.
Publiziert: 08:51 Uhr
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Aktualisiert: 10:46 Uhr
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In rund 20 Jahren sind etwa 75 Prozent der Fluginsekten ausgestorben.
Foto: Zoo Zürich, Enzo Franchini

Auf einen Blick

  • Artenvielfalt in Krise: Abstrakt für Menschen, aber wichtig für Leben
  • Kindheitserinnerung: Insekten auf Windschutzscheiben nach Autofahrten verschwunden
  • 75 Prozent der Fluginsekten in den letzten 20 Jahren verloren
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Severin DressenDirektor des Zoo Zürich

Am letzten Wochenende hatte ich das Privileg, zusammen mit dem Schauspieler und Naturschützer Hannes Jaenicke auf einer Bühne vor rund 1400 Gästen über das Thema Artenvielfalt und Naturschutz zu diskutieren. Ein tolles Forum, um über dieses wichtige Thema zu reden, und gleichzeitig auch eine ziemliche Herausforderung.

Denn das Thema Artenvielfalt beziehungsweise die Krise, in der sie steckt, ist für uns Menschen abstrakt. Der Klimawandel macht sich bemerkbar. Ich merke, wie es im Winter weniger Schnee zum Skifahren hat oder wie es im Sommer während der Ferien am Mittelmeer nicht nur warm, sondern unerträglich heiss ist.

Die Krise der Artenvielfalt ist schwerer greifbar. Im städtischen Raum sind wir es gewohnt, dass es wenige Tiere und Pflanzen gibt. Die Tauben und Linden waren schon immer da und werden auch immer da sein. Und selbst wenn man einen eignen Garten hat: Gefühlt hat es dort noch genug Vögel und Insekten.

Der oberflächliche Blick stimmt, denn Amseln, Sperlinge, Mücken und Wespen zählen in der Tat zu den Gewinnern der Krise. Und trotzdem sagt uns die Wissenschaft, dass da draussen etwas nicht in Ordnung ist. 150 Arten sterben durchschnittlich aus – pro Tag. Doch da es (noch) nicht die charismatischen Eisbären, Orang-Utans oder Steppenelefanten sind, sondern kleine, braune, unbekannte Insekten, Pilze oder Pflanzen, gibt es zum einen keine mediale Berichterstattung, zum anderen hält sich auch das eigene Interesse in Grenzen. Zu weit weg, zu abstrakt – es gibt gerade dringlichere, akutere Sorgen.

Ein Bild, das mir hilft zu vergegenwärtigen, dass es der Artenvielfalt in der Tat nicht gut geht, ist die Kindheitserinnerung an eine Autofahrt. Fuhren wir im Sommer mit unseren Eltern übers Land, war am Ende der Fahrt die Windschutzscheibe voll mit toten Insekten. Manchmal so voll, dass die Insekten selbst mit Spritzwasser und Scheibenwischer nicht wegzubekommen waren und ich, als Tierfreund der Familie, die Aufgabe zugewiesen bekam, die Scheibe per Hand zu waschen.

Macht man jetzt – rund 20 Jahre später – die gleiche Fahrt, so wird die Windschutzscheibe am Ende sauber sein. Vielleicht mit ein, zwei toten Insekten. Denn in diesem Zeitraum haben wir rund 75 Prozent der Fluginsekten verloren. Einen Einbruch um 75 Prozent kann kein Unternehmen, kein Staat, kein System aushalten. Da kann etwas in der Natur nicht stimmen. Und zwar nicht nur weit weg, in den Regenwald rodenden Ländern dieser Welt, sondern ganz nah bei uns.

Was genau nicht stimmt, wissen wir häufig noch gar nicht. Unser Verständnis der Zusammenhänge ist begrenzt. Vielleicht könnten wir Hunderte oder Tausende Arten verlieren, ohne dass sich für uns Menschen etwas ändert. Aber wenn wir dann die eine Art ausgerottet haben, die eine Kettenreaktion auslöst, die ein ganzes Ökosystem zum Wanken bringt, ist es zu spät. Die Art ist weg. Und wir haben ein Problem.

Wir dürfen nie vergessen: Die Natur könnte gut auf uns verzichten. Sie wäre wahrscheinlich ohne uns besser dran. Wir dagegen sind auf eine funktionierende Artenvielfalt angewiesen – zum Atmen, Trinken, Essen. Zum Leben. Vielleicht doch kein schlechter Grund, sich über die Lösung dieses Problems, so komplex es auch sein mag, ein paar Gedanken zu machen.


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