«Wäh», denkt man, wenn man ihnen auf dem Trottoir oder dem Wanderweg ausweicht – und je nach Region tut man dies auf Spaziergängen momentan relativ oft. Die Rede ist von Regenwürmern, die bei anhaltendem Regen aus dem Boden auf die Gehwege und Trottoirs kriechen – respektive schlängeln oder «würmeln». Dies übrigens nicht etwa, weil sie sonst ertrinken würden – eine weit verbreitete Fehlinformation.
Es gibt mehrere Theorien, wieso Würmer bei anhaltendem Regen auf Strassen und Trottoirs anzutreffen sind und dort oft auch verenden. Eine davon ist, dass das Trommeln des Regens dem kratzenden Geräusch des Maulwurfs – einem Fressfeind – ähneln soll und die Würmer deshalb das Weite suchen. Eine andere nimmt an, die Würmer würden sich dank der Feuchtigkeit auch oberhalb der Erde wohlfühlen und deshalb bei Regen auf einfachere Futtersuche gehen. Dieser Theorie steht aber die Lichtempfindlichkeit ihrer Hautzellen entgegen. Diese hat der Regenwurm mit gutem Grund: Kommt er an die Oberfläche, ist er ein gefundenes Fressen für so manchen Vogel, Igel oder Frosch.
Die nackten Bienen der Erde
Wie dem auch sei: Zeit, sich die Tiere einmal näher anzusehen. Denn Regenwürmer sind für uns und unsere Nahrungssicherheit ähnlich wichtig wie zum Beispiel Bienen, auch wenn sie auf den ersten Blick ungleich weniger sympathisch sind.
Sie wie die summenden, fleissigen Honigsammler einfach hübsch und putzig zu finden, ist eher schwierig: Regenwürmer sind nackt, feucht-kühl anzufassen, liegen farblich zwischen leichenweiss, durchfall-beige und mettwurst-rot, und, falls man einen in die Hand nehmen muss, winden und ringeln und kringeln sie sich, dass es empfindsameren Gemütern vor Ekel die Nackenhaare aufstellt.
Und diese Glieder, insbesondere dieses eine ringförmige, wurstartig aufgeworfene Glied – ärghch! Bei Letzterem handelt es sich übrigens um den sogenannten Geschlechtsgürtel. Nur ausgewachsene Tiere haben einen. Er liegt näher beim Kopf, womit auch klar ist, wo beim Regenwurm eigentlich vorne und hinten ist.
Und wenn wir grade beim Kopf sind: Auch das mit dem Durchschneiden – und daraus sollen dann magischerweise zwei Würmer entstehen – ist ein Ammenmärchen. Schneidet man einen Wurm durch, hat der vordere Teil eine geringe Chance zu überleben, meist stirbt er aber an einer bakteriellen oder einer Pilzinfektion, die über die Wunde in den Körper gelangt.
Sympathieträger zu sein, hätten sich Regenwürmer aber trotzdem verdient. Denn: ohne Regenwürmer miese Ernte. Sieht man sich nur schon einen einzelnen Quadratmeter Schweizer Durchschnittsboden an, wird sofort klar, was die nackten Würmer alles leisten: Bis 150 Gänge oder 900 Meter Röhren pro Quadratmeter Fläche in ein Meter Tiefe lassen sich in ungepflügtem, gesundem Boden finden. Die senkrechten, stabilisierten Gänge können zudem je nach Bodenbeschaffenheit drei bis sechs Meter tief reichen.
Ungefähr vier bis zehn Kilogramm allerbesten Humus stellen 100 bis 300 Regenwürmer pro Quadratmeter Boden pro Jahr her. Dies, indem sie Pflanzenmaterial wie insbesondere Laub, das auf der Oberfläche des Bodens liegt, oder sonstiges organisches Material mithilfe einer Art Lippenfalte in ihre Röhren in den Boden ziehen und dort später fressen – wobei fressen eigentlich das falsche Wort ist: Regenwürmer verfügen über keine Zähne. Vielmehr helfen im Boden vorhandene Mikroorganismen, die Nahrung sozusagen vorzuverdauen. Der Regenwurm saugt sie dann samt den Mikroorganismen und Erde schliesslich einfach ein. Um sich das Hereinziehen des Materials in ihre unterirdischen Röhren zu erleichtern, kleiden Regenwürmer diese mit einer Art Schleim und ihrem eigenen Kot aus. Pflanzen lassen ihre Wurzeln übrigens sehr gerne diesen Röhren entlang in den Boden wachsen – es bedeutet für sie weniger Arbeit, zudem sind die Röhren bereits mit Nährstoffen und Humus ausgekleidet.
Regenwürmer erreichen aber noch viel mehr, als Nährstoffe in den Boden zu ziehen, so nützliche Mikroorganismen zu fördern und via ihre Ausscheidungen den sogenannten Wurmkompost – also ihren Kot – sowohl an die Oberfläche als auch in tiefere Bodenlagen zu bringen. Die durch Regenwürmer in den Boden gebohrten Gänge belüften zusätzlich den Boden, was vorteilhafte Bodenbakterien fördert und Wasser schneller versickern lässt. Und da sie organisches Pflanzenmaterial in den Boden ziehen, fressen und verdauen, tragen sie auch ihren Teil dazu bei, Schadorganismen wie etwa Erreger von Pilzkrankheiten von Obstbäumen oder Getreide unschädlich zu machen. All dies kommt gleich in dreifacher Weise den Pflanzen zugute – sie verfügen über mehr Wasser, sie erhalten mehr Nährstoffe, sie stehen in einem gesünderen Boden.
Die Anzahl der Regenwürmer in der Schweiz nimmt ab
Man würde also meinen, dass sämtliche Gärtnerinnen und Landwirte sich noch so freuen, wenn sich möglichst viele Regenwürmer in ihrem Boden befinden, und alles tun, um diese zu hegen und zu pflegen. Schliesslich bedeutet: Regenwurm gut, Ernte besser.
Aber das Gegenteil ist der Fall: Akkurat wird in vielen Gärten im Herbst Laub zusammengewischt, auf dass auch ja kein Blättchen den englischen Rasen verunziere. Regenwürmern entzieht man so aber die Lebensgrundlage. Und tiefes Pflügen, wie das Landwirte im konventionellen Getreideanbau hauptsächlich im Herbst tun, wenn die Regenwürmer am aktivsten sind, dezimiert sie je nach Gerät um bis zu 70 Prozent. Genauso wie das Güllen bei falscher Witterung oder der Einsatz von Kunstdünger.
«So wie viele andere Organismen stehen auch die über 40 Regenwurmarten in der Schweiz durch die intensiven Anbaumethoden stark unter Druck», sagt Agrarökologe Lukas Pfiffner vom Fibl (Forschungsinstitut für biologischen Landbau). Intensive Landwirtschaft sei ein grosses Problem. Einerseits durch Pestizideinsatz im grossen Stil. Aber auch schwere Maschinen machen den Bodenbelüftern Schwierigkeiten, genauso wie zunehmende Trockenheit im Frühling und Herbst. «Regenwürmer sind wichtige Bodentiere und die wahren Baumeister der Bodenfruchtbarkeit», sagt Pfiffner.
Er weiss, wie man den Regenwürmern helfen könnte: «Der Boden müsste stets bedeckt sein, entweder durch eine Pflanzendecke oder eine Mulchschicht als Nahrung, und von schädlichem Pestizideinsatz müsste man absehen.» Am ehesten geschehe dies in der Biolandwirtschaft. Wer also etwas für die Bodengesundheit tun will, soll Bio kaufen – und als Gartenbesitzer das Laub im Herbst auch mal liegen lassen und eine winterharte Grünbedeckung einsäen.