Schweben im Nichts
Darum ist Langeweile gesund für uns

Die Langeweile ist in Verruf geraten. Wir tun alles, um sie zu füllen. Dabei könnte sie eine absolute Wohltat sein, die zudem alles andere als langweilig sein muss.
Publiziert: 09.01.2017 um 11:53 Uhr
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Aktualisiert: 10.07.2019 um 09:57 Uhr
Franziska K. Müller
Tom Hodgkinson, überzeugter Faulenzer: « Wer in kleinen Tätigkeiten Erfüllung findet, der wird merken, wie aufregend Müssiggang sein kann.»
Foto: ZVG

Tödlich gelangweilt von seinem Job, dachte der britische Autor Tom Hodgkinson (49) darüber nach, wie er in einer Welt voller Arbeit und unbezahlter Rechnungen Frieden finden könnte. Als sein Arbeitgeber ihn feuerte, war er der Antwort bereits auf der Spur: Er gründete das Magazin «The Idler» (Der Faulenzer). Die preisgekrönte britische Zeitschrift, die uns zum Nichtstun anhalten will, fasziniert heute Zehntausende Fans und befasst sich mit allerlei interessanten Fragen: Wie lässt sich im Büro die Toilette für den Mittagsschlaf umfunktionieren? Oder: Müssen wir uns schuldig fühlen, bloss weil wir uns ein Bad gönnen, statt zu arbeiten?

Mittlerweile hat Tom Hodgkinson gar eine Idler-Akademie begründet: Sie will Dinge lehren, die vergessen gegangen sind. Wie man einen Knopf annäht. Einen Teppich verlegt. Einen ganzen Nachmittag lang den Garten beobachtet. «Wer in kleinen und unspektakulären Tätigkeiten Erfüllung findet, der wird merken, wie aufregend Müssiggang sein kann.»

Durch die Arbeit hetzen, Sport treiben, Freunde treffen, kochen und waschen: Von Müssiggang sind die meisten Schweizer weit weg. Einfach nichts tun und sich im besten Sinne langweilen sind seltenen Momenten vorbehalten.

Wir versuchen, der Langeweile krampfhaft zu entkommen

Viele halten die Langeweile nicht einmal mehr aus und füllen sie mit Reflexaktionen: dem ständigen Hantieren am Handy, Nonstop-Surfen durch virtuelle Welten etc. «Damit wollen wir die Leere füllen», sagt Langeweile-Forscherin Sandi Mann (71). Sie propagiert in ihren Büchern und Vorträgen das Gegenteil: pure Langeweile. Denn auch so sehr wir darum bemüht sind, uns im Internet abzulenken, in der Flut an Informationen und Möglichkeiten zu baden, all die Mühen bringen letztendlich keine Linderung. All die Aktionen führen uns zurück zum Punkt, dem wir entfliehen wollen. Irgendwann langweilt uns auch die Daueraction und Überstimulation – nur fühlen wir uns durch den Überdruss und das Desinteresse gestresst und matt.

Diese moderne Form der Langweile macht uns nicht nur unzufrieden, sondern mitunter sogar krank. Soziologen haben die negativen Auswirkungen am Arbeitsplatz und in der Schule längst skizziert, Mediziner und Psychologen deren gesundheitliche, seelische Konsequenzen. So steht fest: Existenziell gelangweilte Menschen lassen sich schneller und öfter scheiden, sie werden schneller krank und leiden mitunter unter psychischen Problemen, die an Depressionen erinnern.

Wie eine landesweite Untersuchung der amerikanischen Columbia University gezeigt hat, sind auch Jugendliche vermehrt von der umtriebigen Langeweile betroffen. Sie versuchen, ihr zu entfliehen, indem sie den Kick in Risikosportarten oder anderen Exzessen suchen. Über die Hälfte der Teenager, die sich in der Studie als «häufig gelangweilt» bezeichneten, greift auffallend häufiger zu Zigaretten, Drogen und Alkohol als andere Altersgenossen.

Bereits kursiert ein neuer Begriff für diese Befindlichkeit, manche bezeichnen sie bereits als neue Volkskrankheit: das «Bore-Out»-Syndrom. Müdigkeit, Erschöpfung, Schlafschwierigkeiten und Antriebslosigkeit gehen paradoxerweise mit jenem Stress einher, den negativ empfundene Langeweile provozieren kann.

Wer nichts tut, ist in der Gesellschaft nichts wert

Béatrice Heller (59) ist Co-Leiterin des Zentrums für Achtsamkeit in Zürich. Sie beobachtet: «Die heutige Gesellschaft ist extrovertiert und schnell. Die meisten Menschen definieren sich darüber, was sie leisten und wie man sich verbessern kann. Werden einmal keine Anforderungen an sie gestellt, empfinden sie diese Zeit als unproduktiv und reagieren oft mit Unruhe und Aktivitätsdrang.»

Höchste Zeit also zur Denkumkehr. Wir sollten uns wieder auf die Urform der Langeweile zurückbesinnen: auf mehr Leerräume, wieder lernen, Nichtstun auszuhalten. «Die Langeweile positiv umkehren und wieder in unser Leben integrieren», sagt Sandi Mann.

In der Zwischenzeit erforschen auch Neurowissenschaftler die positiven Effekte von Müssiggang und Faulenzertum. Die McGill University in Kanada führte als eine der ersten Institutionen entsprechende Untersuchungen durch. Die Konklusionen sind noch nicht wissenschaftlich bewiesen, dennoch scheint klar: Bei jenen, die nichts tun, fällt der Blutdruck, und die Ströme ruhender Hirnregionen lassen darauf schliessen, dass sich unsere Denkzentrale für spätere Stimulationen rüstet – und Erinnerungen in der Folge besser speichern oder mit anderen Regionen des Gehirns verbinden kann.

Coaches und Spezialisten wollen uns Achtsamkeit lehren

Ein wachsendes Heer von Coaches, Achtsamkeits-Spezialisten und Meditationsschulen machen es sich zur Aufgabe, unseren Umgang mit Langeweile zu verändern – uns Lust auf ihre positiven Effekte zu machen. Einfacher gesagt als getan? Gülsha Adilji (30), die umtriebige, für ihr freches Mundwerk bekannte Moderatorin des ehemaligen TV-Jugendsenders Joiz, kann das bestätigen. Immer wissen, was läuft, bei allem dabei sein, gleichzeitig die sozialen Medien und das Internet checken: Auch die Journalistin musste lernen, mit all diesen Impulsen anders umzugehen, ohne gelangweilt zu werden.

Gülsha Adilji, Moderatorin: « Beobachte ich zu Hause meine Weinbergschnecke, ist das fast so interessant wie Instagram.»
Foto: ZVG

Der Anfang war schwierig. Als Lehrmittel schaffte sie sich ein Haustier an, wie sie sagt, ein Symbol des neuen Müssiggangs: eine Weinbergschnecke. «Beobachte ich das Tier, das nur vordergründig nichts macht, ist das fast so interessant wie Aktivitäten auf Instagram, Snapchat oder Twitter», sagt Adilji. Die Beobachtungen beruhigen und entschleunigen sie wohltuend. Zwischendurch falle sie zwar in alte Muster zurück, lebe wieder in alten Extremen. Nun aber habe sie Antennen dafür, sagt sie.

Derzeit schreibt Gülsha an einem Bühnenstück. Satz für Satz. Dann und wann bleibt sie bewusst einen Abend zu Hause und macht rein gar nichts. «Oder ich jogge frühmorgens hinauf auf den Üetliberg.»

Die neue Langeweile lässt sich im Alltag üben

Genau in solchen unspektakulären Aktivitäten sehen Achtsamkeits-Experten einen wichtigen Ansatz, um von der getriebenen zur erholsamen Langeweile zu finden und daraus Kreativität und neue Kraft zu schöpfen.

Dazu muss man nicht mal in Kurse gehen. Routinetätigkeiten, die einen grossen Anteil unseres Alltags füllen, eignen sich prima dazu, die neue Langeweile zu üben: zum Beispiel Duschen, Zähneputzen, Essen, Einkaufen, Zugfahren. Sich also auf kleine Tätigkeiten zu konzentrieren und sie bewusst ausführen, ohne in Gedanken woanders zu sein. «Das führt dazu, dass wir Langeweile als wohltuend erleben», sagt Achtsamkeits-Expertin Heller.

Die Belohnung: Ruhe und Ausgeglichenheit, aber auch eine neue Faszination für Menschen, Themen und Tätigkeiten. Gülsha Adilji etwa hat sich ein neues Hobby zugelegt. Sie fotografiert Altpapierbündel. «Ich bewundere Menschen, die in stundenlanger Arbeit akribische Stapel erschaffen, die bei genauer Betrachtung alles andere als langweilig sind – sondern regelrechte Kunstwerke.»

Literatur «Anleitung zum Müssiggang» von Tom Hodgkinson, Verlag Heyne. Infos zur Achtsamkeit: www.centerformindfulness.ch

«Seien Sie ein Langweiler»

«Viele Kinder haben Mühe, einer einzigen Sache mehr als zwei Minuten Aufmerksamkeit zu schenken.
Sie sind sich ein schnelles Tempo gewohnt – in einem ablenkenden und ständig wechselnden Umfeld. So werden wir früh abhängig von Neuheiten und Neuigkeiten und zeigen Anzeichen von Langeweile, sobald die Dinge gleich bleiben. Das ist bei Erwachsenen nicht anders.

Wir haben gegenwärtig eine durchschnittliche Aufmerksamkeitsdauer von acht Sekunden.
Das ist so viel wie die eines Goldfischs. Vor zwei oder drei Generationen kannte man Langeweile noch nicht. Menschen waren damit beschäftigt, zu überleben. Bezeichnend ist, dass wir Langeweile im Leben als äusserst negativ erleben. Das Hirn sucht automatisch nach Stimulationen durch Dopaminkicks. Viele kennen diesen Neurotransmitter als Glückshormon.

Den Kick kann man provozieren: indem wir masslos essen, trinken oder riskanten Beschäftigungen nachgehen.
Aber auch, indem wir uns in der virtuellen Welt ein Paralleluniversum zurechtzimmern. Nebst den psychischen Folgen, die Symptomen einer Depression ähnlich sind, birgt diese Art der Langeweile noch andere Gefahren. Wer sich am Arbeitsplatz extrem langweilt, macht mehr Fehler, und die Motivation sinkt messbar – zum Nachteil des Arbeitgebers.

Wer seinen Überdruss gar auf Menschen ausdehnt, und das geschieht häufig, riskiert das Ende von Beziehungen.
Die hohe Scheidungsrate, so bin ich aufgrund meiner Arbeit überzeugt, steht direkt in Zusammenhang mit dem Achtsamkeitsdefizit: So wie wir uns nicht mehr auf eine Sache konzentrieren können, so verlieren wir über einen langen Zeitraum hinweg auch das Interesse an ein- und derselben Person – und empfinden Beziehungsroutine als öde, führen sie auf fehlende Liebe zurück. Wir tun der Langeweile aber unrecht! Wir empfinden sie als negative Emotion und pflegen dadurch einen falschen Umgang mit ihr.

Nichts erledigen zu müssen, kann durchaus eine Wohltat sein.
Genauso langsame oder unspektakuläre Tätigkeiten oder zelebrierte Routine. Wird man dadurch automatisch zu einem langweiligen Menschen? Vielleicht. Allerdings sind die sogenannten Langweiler bei genauer Betrachtung weit interessanter als angenommen.»

Expertin für Langeweile: die britische Forscherin Sandi Mann.
Expertin für Langeweile: die britische Forscherin Sandi Mann.
Thinkstock

«Viele Kinder haben Mühe, einer einzigen Sache mehr als zwei Minuten Aufmerksamkeit zu schenken.
Sie sind sich ein schnelles Tempo gewohnt – in einem ablenkenden und ständig wechselnden Umfeld. So werden wir früh abhängig von Neuheiten und Neuigkeiten und zeigen Anzeichen von Langeweile, sobald die Dinge gleich bleiben. Das ist bei Erwachsenen nicht anders.

Wir haben gegenwärtig eine durchschnittliche Aufmerksamkeitsdauer von acht Sekunden.
Das ist so viel wie die eines Goldfischs. Vor zwei oder drei Generationen kannte man Langeweile noch nicht. Menschen waren damit beschäftigt, zu überleben. Bezeichnend ist, dass wir Langeweile im Leben als äusserst negativ erleben. Das Hirn sucht automatisch nach Stimulationen durch Dopaminkicks. Viele kennen diesen Neurotransmitter als Glückshormon.

Den Kick kann man provozieren: indem wir masslos essen, trinken oder riskanten Beschäftigungen nachgehen.
Aber auch, indem wir uns in der virtuellen Welt ein Paralleluniversum zurechtzimmern. Nebst den psychischen Folgen, die Symptomen einer Depression ähnlich sind, birgt diese Art der Langeweile noch andere Gefahren. Wer sich am Arbeitsplatz extrem langweilt, macht mehr Fehler, und die Motivation sinkt messbar – zum Nachteil des Arbeitgebers.

Wer seinen Überdruss gar auf Menschen ausdehnt, und das geschieht häufig, riskiert das Ende von Beziehungen.
Die hohe Scheidungsrate, so bin ich aufgrund meiner Arbeit überzeugt, steht direkt in Zusammenhang mit dem Achtsamkeitsdefizit: So wie wir uns nicht mehr auf eine Sache konzentrieren können, so verlieren wir über einen langen Zeitraum hinweg auch das Interesse an ein- und derselben Person – und empfinden Beziehungsroutine als öde, führen sie auf fehlende Liebe zurück. Wir tun der Langeweile aber unrecht! Wir empfinden sie als negative Emotion und pflegen dadurch einen falschen Umgang mit ihr.

Nichts erledigen zu müssen, kann durchaus eine Wohltat sein.
Genauso langsame oder unspektakuläre Tätigkeiten oder zelebrierte Routine. Wird man dadurch automatisch zu einem langweiligen Menschen? Vielleicht. Allerdings sind die sogenannten Langweiler bei genauer Betrachtung weit interessanter als angenommen.»

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