Herr Hohler, mögen Sie mich auf eine Reise schicken?
Franz Hohler: Wenn Sie sich darauf einlassen, gerne!
Also, wir sind zwei Figuren in einer Kindergeschichte: Welches Abenteuer erwartet uns?
Die Amsel, die wir da draussen singen hören, kommt auf den Fenstersims geflogen und singt hier weiter. Irgendwann fragt sie uns, ob wir mitkommen möchten, auf ihren Baum. Ich antworte ihr: «Ich bin nicht ganz sicher, ob ich das schaffe, mit dem Fliegen. Aber die Dame, die hier sitzt, die kann ganz sicher fliegen. Geht doch mal zusammen schauen, wie es ist auf dem Baum.»
Die Amsel singt tatsächlich vor dem Fenster Ihres Arbeitszimmers. Wie stark prägt die Umgebung Ihre Geschichten?
Die Fantasie liegt nicht auf einem fernen Planeten, im Urwald oder in der Wüste, sondern direkt vor der Haustür. Oder sogar im Haus. Es geht darum, sich etwas vorzustellen, das über die Realität des Moments hinausgeht. Ich bin jederzeit und überall bereit, die Wirklichkeit zu verwandeln.
Sie sind erwachsen und bestens über die Weltlage informiert. Wie bewahren Sie sich die Unschuld fürs Erzählen?
Indem ich beim Ursprung aller Geschichten beginne: «Es war einmal ...» Wir alle haben noch ein Kinderzimmer in uns. Die Tür dazu sollten wir auch als Erwachsene immer einen Spalt offen halten. Wenn man sich den Zugang zu diesem Kinderzimmer mit seinen Fantasien und Ängsten bewahrt, kann man immer eine Geschichte für Kinder erzählen.
Was war als Kind Ihre Lieblingsgeschichte?
Mutter las uns alle Grimm-Märchen vor. Als sie damit durch war, kaufte sie sich einen Band mit arabischen Märchen. Beim Erzählen ist sie aber ein bisschen erschrocken, weil die Geschichten oft grausam sind, deshalb übersprang sie die schlimmen Stellen. Das entging uns nicht, also begann ich sehr bald, selber zu lesen. Ich mochte humoristische Sachen, Wilhelm Busch, Erich Kästner, alle Globi-Bücher, Verse plus Bilder. Die Sabotage der Wirklichkeit, die hat mir immer gefallen.
Sie lasen Globis Verse? Das haben wohl nur wenige Kinder gemacht.
Die waren sehr eingängig: «He Frau Müller, Donnerwetter, was ist das für ein Radiogeschmetter. Stellen Sie doch leise ein, das geht ja durch Mark und Bein.» Meine erste literarische Form waren ebenfalls Verse mit Zeichnungen. Kürzlich fand ich beim Räumen des Elternhauses meine erste Versgeschichte wieder, «Das unglückliche Pferd». Ein schöner Fund. Ich habe sie als Achtjähriger gezeichnet und gedichtet und sie den Eltern zu Weihnachten geschenkt. Sie begann fröhlich: «Mit seinem Pferd Herr Javian, sich sieht die schöne Landschaft an.» Dann aber kommt das Unheil, zum Schluss stirbt das Pferd.
In Ihrem Kinderbuch «Die Nacht des Kometen» sagt ein Protagonist, es gebe ganz viele Welten, von denen wir nichts wüssten. Glauben Sie das?
Durchaus, ja. Nur schon, wenn wir schlafen, geht im Traum allen eine andere Welt auf. Wir setzen sie aus unseren Gedanken und Erinnerungsvorräten zusammen, oder sie werden von der Traumregie für uns zusammengesetzt, wer immer das ist.
Erinnern Sie sich an Ihre Träume?
Gewöhnlich ja. Es gibt Zeiten, da schreibe ich am Morgen meinen Traum auf und überlege, wo ich war. Was bedeutet es, auf dem Eiger zu stehen und eine freundliche Einladung in einen Bus zu erhalten mit der Ansage, der Bus fahre jetzt die Eigernordwand hinunter? Steige ich ein oder nicht?
Wovon träumten Sie als Kind?
Ich hatte oft Angstträume. Ich war in einer Zwergenwelt, alles war winzig klein. Ich probierte, grösser zu werden und schaffte es nicht.
Träume sind wichtige Motive Ihrer Geschichten, etwa in Ihrem bekannten und erfolgreichen Kinderbuch «Tschipo».
Genau, Tschipos Träume sind der Hauptmotor der Geschichte. Kinder fragen mich oft, weshalb ich von einem träumenden Bub schreibe. Dann antworte ich jeweils, dass ich selber gerne träume.
Ein Kind riet Ihnen einst, mehr über Krieg mit Panzern und Waffen zu schreiben – das sei, was die Jugend wolle. Können Sie das nachvollziehen?
Ich begreife das Kind durchaus, ich war selber sehr fasziniert vom Krieg. Ich war ein ganz begeisterter Anhänger der Schlachten der alten Eidgenossenschaft. St. Jakob an der Birs fand ich das Grösste. Ich habe in die Poesiealben meiner Schulkameradinnen sterbende Krieger gezeichnet. Der Krieg gehört zur menschlichen Geschichte, und scheinbar unlösbare, gewalttätige Konflikte gehören zum Wesen des Menschen. An dem kommt niemand vorbei, der sich mit Menschen beschäftigt.
Viele Ihrer Geschichten haben kein Happy End. Können Kinder gut damit umgehen?
Manchmal erschrecke ich selber ob meiner Geschichten. Ich werde deswegen auch ab und zu von Pädagogen kritisiert. Aber meine Erfahrung ist, dass Kinder das Unglück, die Katastrophe lieben. Ein Buch über die Feuerwehr ist ein Hit bei Kindern. Oder über Vulkanausbrüche. Das Unglück stellt die Abweichung von der Normalität dar und ist interessanter als das Glück. Deshalb lasse ich manchmal etwas Verhängnisvolles stehen. Eine Geschichte kann auch Warnung sein.
Weshalb ist das nötig?
Ich möchte die Welt als Ganzes abbilden, auch mögliche Gefahren und Tragödien. In der lateinamerikanischen Kinderliteratur gibts nichts anderes als Happy Ends. Ich schrieb die Geschichte «Der tragische Tausendfüssler», der beim Versuch, seine Füsse zu zählen, irrtümlich von einer vegetarischen Haubenmeise gefressen wird. Die Geschichte wurde auf Spanisch übersetzt, und da fragte mich einst in Costa Rica ein Kind, wieso der Tausendfüssler magisch sei. «Tragisch» wurde einfach mit «magisch» übersetzt, und die Geschichte endete glücklich.
Anders als in der Schweiz wachsen Kinder in Lateinamerika zum Teil in katastrophalen Verhältnissen auf – und sehnen sich wohl nach versöhnlichen Geschichten.
Das denke ich auch, schöne Geschichten sind ihre Gegenwelt. Wichtig ist aber, dass man nicht so tut, als ob es die andere Welt nicht gäbe. Ich war zum Beispiel gleich nach dem Krieg in Bosnien. Dort liessen Lehrer Kinder in einem Projekt zu Traumabewältigungen ihr schlimmstes Erlebnis aufschreiben. Das scheint mir wichtig, denn es hilft bei der -Verarbeitung, wenn man die grausamen Geschehnisse nochmals erzählen kann. Ich liess mir die Geschichten übersetzen. Sie waren furchtbar.
Welche Geschichten würden Flüchtlingskinder aus Syrien erzählen?
Das frage ich mich auch. Es wäre gut, wenn sie ihre Geschichten überhaupt erzählen könnten. Bestimmt wollen sie sich aber auch Geschichten erzählen lassen. Ich hoffe, dass es in all diesen Gruppen genügend Leute gibt, die aus den Geschichtenvorräten der Heimatländer schöpfen können.
Gibt es Motive, die Kinder auf der ganzen Welt begeistern?
Freundschaft. Sie ist etwas sehr Wichtiges. Viele Geschichten, die mir Kinder zusenden, beginnen mit Feindschaft und enden mit Versöhnung. Es gibt kaum Geschichten, die andersrum laufen. Das zeigt, dass ein Bewusstsein für Konflikte da ist, aber ebenso ein Wunsch nach Frieden.
Was mögen Kinder besonders an Geschichten?
Handelnde, sprechende Tiere sind ein uraltes Märchenmotiv. Oder sprechende Möbel, Steine, Bäume. Ich rede übrigens selber häufig mit Gegenständen, das hilft, die kindliche Welt zu erhalten. Gerade heute Morgen habe ich mit einem Wäschlümpli gesprochen, das auf dem Balkon hing.
Worüber haben Sie beide gesprochen?
«Was bisch du für es Wäschlümpli?», fragte ich. Und da antwortete es: «Als ich jung war, habe ich noch Gesichter gewaschen. Aber heute will das niemand mehr.» Die ganze Welt als etwas Belebtes zu sehen, entspricht der kindlichen Fantasie. Und es ist letztlich eine naturwissenschaftliche Einsicht. Wir lernen von der Atomphysik, dass alles aus allerkleinsten Teilchen besteht, die sich bewegen, auch Steine, und Tische. Wenn man sich diese Vorstellung bewahrt, nimmt man ein Stück Empathie mit.
Zum Beispiel für einen alten Waschlappen?
Durchaus. Wenn er einen so traurig anschaut, wirft man ihn weniger gerne weg. Das Mitgefühl wächst, wenn man das, was man um sich hat, als belebt empfindet. So reisst man vielleicht eine Blume weniger aus oder zertrampelt keine Schnecken mehr. Das Erleben von Geschichten ist ein Stück der Bildung – des Menschen und der Menschlichkeit.
Wie gross sind Ihre pädagogischen Absichten beim Schreiben?
So klein wie möglich. Ich sehe mich nicht als Aufklärer. Wenn eine pädagogische Grundabsicht, dann diese: die Fantasie zu erhalten und anzuregen.
Was kann und soll die Schule dazu beitragen?
Sie soll das Geschichtenerzählen nicht vergessen und gemeinsam mit den Kindern Geschichten erfinden. Wenn sie heute Erwachsene nach ihrem schönsten Schulerlebnis fragen, antworten sie oft, samstags hat uns Lehrer Grüter jeweils um elf Uhr noch eine Geschichte vorgelesen. Das bleibt einem, weil es offenbar etwas anspricht, das nicht primär mit Schule und Lernen und Pädagogik zu tun hat.
Verändern Videogames und verfilmte Bücher die Fantasien der Kinder negativ?
Im Prinzip bin ich zuversichtlich. Jedes neue Medium weckt eine Gegenbewegung und Ängste vor Verblödung. Der Fernseher galt ja auch schon als Tod des Familienlebens, des Geschichtenerzählens, des Vereinslebens. Aber gerade bei Videogames tauchen sehr oft uralte Märchenmotive auf. Ein Schatz, den man suchen, oder ein böser Zauberer, gegen den man kämpfen muss. Das sind Märchen, die einfach in anderen Medien erzählt werden.
Aber Buchverfilmungen prägen die Fantasie. Charaktere sind plötzlich besetzt mit den Gesichtern der Schauspieler.
Der Film liefert Bilder, die man sich selber vorstellen sollte. Ich selber schaue deshalb nicht gerne Verfilmungen von Büchern, die ich gelesen habe. Vielleicht lässt es der Fantasie weniger Spielraum, aber auch Bilder klingen nach und werden wieder zu einem Stück Fantasie. Starke Bilder aus dem Film werden in der Folge aber genauso zu einer Erinnerung wie starke Buchpassagen.
Ihre Geschichten bieten Kindern oft erstaunliche Privilegien. Ein Spalt, durch den nur sie in eine andere Zeit reisen können. Oder ein See, in den nur Sonntagskinder eintauchen können. Weshalb?
Kinder erleben es häufig als Nachteil, dass sie Kinder sind. Oft hören sie, «das darfst du erst, wenn du älter bist» oder «das ist noch nichts für dich, dafür bist du noch viel zu klein». Kinder werden damit dauernd auf ihre Schranken hingewiesen, die sich durch ihr Kindsein ergeben. Deshalb finde ich es schön, Kindern in meinen Geschichten zu sagen: «He, das könnt jetzt nur ihr.»
In «Tschipo» sagt eine Seife, sie habe bei Adorno in Deutschland studiert. Ist das ein Gruss an die Erwachsenen?
Ja, da winke ich ein bisschen den erwachsenen Erzählerinnen und Erzählern. Solche kleinen Zeichen lasse ich gerne drin für jene, die vorlesen.
Zum Schluss: Wo fliegen die Amsel und ich gerade hin?
Ja, wo möchten Sie denn gerne hin?
Auf eine schottische Insel.
Na, dann los!
Franz Hohler (73) ist in Olten SO aufgewachsen und schrieb schon als Kind erste Verse und Geschichten. Mit 22 Jahren feierte er Premiere als Kabarettist, verfasste Theaterstücke und gab 1967 sein erstes Buch, «Das verlorene Gähnen», heraus. Mit «Tschipo» erschien 1978 sein erstes Kinderbuch, viele weitere folgten. Zusammen mit René Quellet begeisterte er zwischen 1973 und 1994 mit der Sendung «Spielhaus» die Kinder vor den TV-Bildschirmen. Hohler ist Vater von zwei Söhnen und wohnt mit seiner Frau Ursula seit 38 Jahren in Zürich-Oerlikon.
Franz Hohler (73) ist in Olten SO aufgewachsen und schrieb schon als Kind erste Verse und Geschichten. Mit 22 Jahren feierte er Premiere als Kabarettist, verfasste Theaterstücke und gab 1967 sein erstes Buch, «Das verlorene Gähnen», heraus. Mit «Tschipo» erschien 1978 sein erstes Kinderbuch, viele weitere folgten. Zusammen mit René Quellet begeisterte er zwischen 1973 und 1994 mit der Sendung «Spielhaus» die Kinder vor den TV-Bildschirmen. Hohler ist Vater von zwei Söhnen und wohnt mit seiner Frau Ursula seit 38 Jahren in Zürich-Oerlikon.