Der mauretanische Gesetzeshüter kannte keinen Spass. Mit vorgehaltener Pistole zählte er Frank Knothe (79) dessen Sünden auf. «Kollegen aus dem Service hatten uns gesagt, dass es zwischen der Hauptstadt Nouakchott und Akjoujt eine Strecke gibt, die kerzengerade und eben ist.» Genau das suchte der Mercedes-Versuchsingenieur zu Beginn der 1970er-Jahre für Hitzetests mit einem Wankelmotor-Sportwagen, schraubte Bretter zur Erhöhung des Luftwiderstands und damit der Motorbelastung aufs Dach und bretterte mit Vollgas durch die Wüste. Zum Missfallen der lokalen Polizei.
Heute erledigen Computer nicht nur die meiste Arbeit bei der Entwicklung eines neuen Autos, sondern sie simulieren sogar Praxistests. Hitze, Kälte, Fahrbahnoberflächen – aus jahrzehntelang gesammelten Daten wissen sie, wie ein Auto unter allen möglichen Bedingungen reagiert, und können sein Verhalten vorhersagen. Und ob es die Fahrsituation wohl meistern wird. Aber vor 50 Jahren war die Erprobung neuer Autos noch ein Abenteuer – in dem mancher Ingenieur viel riskierte.
In der Telefonzelle bei minus 38 Grad
Aus der afrikanischen Wüste in die Arktis – das war Frank Knothes Alltag. Obwohl es schon Kältekammern gab, kam man um Tests in der freien Natur nicht herum. Seinen persönlichen Rekord erlebte Knothe nicht im schwedischen Autotester-Hotspot Arjeplog, sondern im norwegischen Dorf Nikkaluokta: «Minus 38,5 Grad», berichtet der heute pensionierte Techniker. «Telefonieren konnten wir nur in einer bloss kniehohen Telefonzelle ohne Dach. Verrückt.» Wer bei Winterfahrten in den Schnee abflog, musste in die Bierkasse einzahlen – bis die Testtrupps so gross wurden, dass schon nur eine Runde dank skandinavischer Alkoholpreise den Ruin bedeutet hätte. Zweite Herausforderung: «Das schwedische Brot war so labbrig – die Ingenieure haben selbst gebacken.» Und dann musste der ehemalige Leiter der Mercedes-Fahrzeugversuche immer auf der Hut vor sogenannten Erlkönigjägern sein – Fotografen, die getarnte Prototypen verfolgen, um als Erste ein Bild der neuen Modelle zu haben. Die damals meistens draussen parkiert wurden, damit morgens Kaltstarts probiert werden konnten.
Auch Testfahrten im 45 bis 50 Grad heissen kalifornischen Death Valley gehörten und gehören bis heute zum Standard-Testprogramm. Mit Klimaanlage blieb es noch einigermassen erträglich. Aber Knothe durchquerte das Tal des Todes einst im Mercedes 190 D mit müden 72 Diesel-PS. «Bei so wenig Leistung konnte man entweder kühlen oder fahren», erinnert er sich. Also musste die Klimaanlage ausbleiben. Bei den Tests in der mauretanischen Wüste waren nicht nur Sonne und Hitze ein Problem, sondern auch völlig überladene Peugeot-Pritschen-Taxis. «Einmal wurde ein Prototyp des Typs W123 von 1975 in den Sand abgedrängt und hat sich mehrmals überschlagen. Die Kollegen sind aber ohne Blessuren ausgestiegen.» Der Realtest zeigte, wie stabil die Karosserie war: «Die Mechaniker haben das Auto sogar wieder hinbekommen», sagt Knothe.
Sprung bei Vollgas
Überhaupt, die Crashtests: Die ersten fanden noch unter freiem Himmel statt. Per Segelflugwinde oder Heisswasser-Rakete angetrieben, knallten die Versuchsfahrzeuge in Holzbohlenwände oder Betonblöcke oder wurden über Rampen in die Luft geschleudert, um Überschläge zu simulieren. Bei den ersten Versuchen ab 1959 stellte man fest: Schon beim Aufprall aus Tempo 50 gabs kaum eine Überlebenschance nach dem damaligen Stand der Technik. Immerhin konnte man die herrschenden Kräfte schon an einem Dummy namens «Oskar» messen. Am Anfang der 1950er-Jahre liess sich Ernst Fiala, Karosserie-Entwicklungschef bei Mercedes, noch selbst auf einem Schlitten in leere Gurkendosen crashen. Wenigstens nur bei tiefen Geschwindigkeiten.
Und der mauretanische Polizist? «Zehn Kilometer vor Nouakchott sprang er bei Vollgas vor uns auf die Strasse – ich konnte nur noch knapp ausweichen», sagt Knothe. Der Gesetzeshüter zog Waffe und Regelbuch und schimpfte auf Französisch los: Viel zu schnell sei das gewesen. Auch wenn nirgendwo ein Schild mit einem Tempolimit zu sehen war. «Wir haben uns schon hinter Gittern gewähnt», erinnert sich Knothe. Bis der Polizist die Marke der getarnten Testwagen erkannte: «Mercedes très bien!», rief er und machte salutierend den Weg frei. Für einmal Glück gehabt.