Nachdem die Ukrainer die Russen im Osten überrumpelt und teilweise vertrieben haben, scheint der Kreml Gesprächsbereitschaft zu zeigen. Wie ernst ist das gemeint? Gibts bald Frieden oder holt Putin doch noch die Atomwaffen hervor?
Blick beantwortet die wichtigsten Fragen zum Krieg in der Ukraine, bei dem sich das Blatt definitiv zugunsten der Ukraine zu wenden scheint.
Ist das die Wende, gewinnt die Ukraine nun den Krieg?
Auszuschliessen ist das nicht. Mauro Mantovani (58), Strategieexperte an der ETH-Militärakademie, sagt zu Blick: «Die Ukrainer sind durch diese Erfolge ihrem Kriegsziel, die Russen ganz aus dem Land zu vertreiben, zwar näher gekommen. Der Weg dahin wird aber noch ein langer sein und möglicherweise über eine Eskalation der Gewalt führen.» Laut Mantovani haben die Ukrainer gute Chancen, langfristig sämtliche verlorenen Gebiete zurückzuerobern.
Auch ETH-Sicherheitsexperte Benno Zogg (32) geht davon aus, dass die Ukrainer mit ihrem Verteidigerbonus die eroberten Gebiete halten und weitere Vorstösse unternehmen. «Dieser Krieg bietet aber kaum schnelle Wenden, sondern eher monatelanges, zähes Vorankämpfen.»
Bei den Ukrainern herrscht Euphorie. «Schon in den nächsten Wochen werden wir einen raschen Vormarsch in der Region Luhansk erleben», sagt Sergij Gayday (46), Gouverneur von Luhansk, gegenüber Blick. «Unsere Städte sind von den Russen fast vollständig zerstört worden. Deshalb werden diese keine Schutzmöglichkeiten haben.»
Warum sind die ukrainischen Truppen im Osten so erfolgreich?
Die Ukrainer haben die Russen mit einem Täuschungsmanöver überrumpelt. Es schien in den vergangenen Tagen, dass sie den Fokus auf Cherson legten, worauf sich die Russen im Süden auf die Verteidigung einstellten.
Doch dann schlugen die Ukrainer überraschend und schnell im Osten zu. Mantovani: «Der Durchbruch erfolgte in einem Frontabschnitt, der durch Einheiten der Luhansker Miliz und russische Reservisten nur schwach besetzt war.» Zugleich sei offenbar russische Luftunterstützung ausgeblieben.
«Dass dieses Ablenkungsmanöver gelang, belegt erneut die Schwäche der russischen Nachrichtendienste», sagt Mantovani. Ihr Lagebild sei jenem der Ukrainer, die vom Westen unterstützt werden, deutlich unterlegen.
Dass sich die russischen Truppen teilweise ungeordnet zurückzogen und grosse Mengen an Kriegsgerät und Munition zurückliessen, zeuge nicht nur von einem Überraschungseffekt, sondern auch von einer «desolaten» Kampfmoral. Mantovani ist überzeugt: «Diese Moral dürfte sich nun in den Besatzungstruppen fortpflanzen.»
Wie geschwächt ist die russische Armee?
Die russische Armee habe kaum mehr Reserven, sagt Mauro Mantovani. Das habe sich vergangene Woche im Osten Russlands bei der Routineübung Wostok gezeigt, die von einst angeblich 300’000 auf 15’000 Mann zusammengeschrumpft sei. Mantovani: «Zeitsoldaten zu halten, geschweige denn hinzuzugewinnen, wird schwierig werden. Zudem sind die neuen Rekruten noch lange nicht ausgebildet.»
Die Russen könnten in der Ukraine bestenfalls noch besetzte Gebiete eine Zeit lang halten und weiterhin mit Raketen und Luftstreitkräften im Hinterland Schäden anrichten. «Grossräumig neue Gebiete zu erobern, scheint nun endgültig ausserhalb ihrer Möglichkeiten zu liegen», meint Mantovani.
Wie reagiert Putin auf die Kritik gegen ihn?
Tschetschenen-Anführer Ramsan Kadyrow (45), der Putin seine berüchtigten Söldner liefert, ist sauer auf den Kreml. Er spricht in einer Audiobotschaft von einer «unfassbaren Situation» an der Front und fordert eine Änderung der Strategie. Kritik soll es auch von hohen Beamten geben.
Solch offene Zweifel an der «Genialität Putins als Feldherr» seien in Russland gefährlich, sagt Mauro Mantovani. Er rechnet mit weiteren Entlassungen von Militärführern und Nachrichtendienstlern.
Wie gross ist die Chance auf Verhandlungen und einen Waffenstillstand?
Der russische Aussenminister Sergej Lawrow (72) hatte am Sonntag Verhandlungen nicht ausgeschlossen. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski (44) erklärte darauf allerdings, dass er aktuell keine Möglichkeit für Verhandlungen sehe, weil die russische Regierung keine Bereitschaft zu einer konstruktiven Lösung zeige. Eine Einigung könne erst nach dem vollständigen Abzug der russischen Truppen erzielt werden.
Benno Zogg sagt: «Wenn sich russische Verhandlungsangebote konkretisieren dürften, wäre dies als Finte zu werten.» Es deute nichts darauf hin, dass Putin seine Kriegsziele anpassen und die Ukraine plötzlich als gleichwertigen Verhandlungspartner und Land mit Anspruch auf Eigenständigkeit wahrnehmen wolle. «Auf russischer Seite besteht weder der Wille zu Kompromissen, noch ist man militärisch genügend unter Druck.»
Das Gleiche gelte für die Gegenseite. Zogg: «Die ukrainische Armee hat jetzt Momentum, und diese Erfolge dürften die Moral in Armee und Bevölkerung sowie bei ausländischen Partnern stärken.» Selenski wisse, dass russische Verhandlungsangebote nur dazu dienen sollten, sich zu regruppieren und Versorgungslinien wiederherzustellen. «Diese Pause will und soll man der russischen Armee nicht gönnen.»
Wie rächt sich Putin?
Nach dem Vorrücken der Ukrainer kam es im Osten des Landes zu massiven Stromausfällen, Millionen waren im Dunkeln und ohne Wärme. War es die Rache Putins? Der Gouverneur der Region Dnipropetrowsk jedenfalls wirft den russischen Streitkräften vor, Energie-Infrastruktur angegriffen zu haben. Mit der Attacke wolle sich die russische Arme für ihre Niederlage auf dem Schlachtfeld rächen, schrieb Valentin Reznichenko (50) auf Telegram.
Er bezeichnet die Russen als «Terroristen», die es nicht auf militärische Ziele abgesehen hätten, sondern die Menschen in der Ukraine ohne Strom und Heizung zurücklassen wollten. Mauro Mantovani: «Vergeltungsschläge gegen die Zivilbevölkerung beherrschen die Russen leider sehr gut.»
Greift Putin nun zu den Atomwaffen?
Benno Zogg glaubt nicht, dass Putin nach den ukrainischen Erfolgen militärisch gross reagieren werde. «Russland wird sich vorerst kaum strategisch umorientieren, auch um kein Zeichen eigener Schwäche zu zeigen.» Die Erfolge der Ukrainer führten noch nicht zu einem Zusammenbruch der gesamten russischen Front. «Das Thema Atomwaffen wäre daher aus Putins Sicht unverhältnismässig und kaum zielführend», ist Zogg überzeugt.