Am Ortsausgang von Isjum hängt sie schon, die gelb-blaue ukrainische Flagge, auch im Stadtzentrum von Kupjansk. Die beiden Kleinstädte sind wie das zuvor von ukrainischen Truppen eroberte Balaklija wichtige strategische Orte im Osten der Ukraine. Von hier aus wollte Russland seinen Vormarsch auf den Donbass vorantreiben. Jetzt hat Kremlchef Wladimir Putin (69) andere Sorgen.
Kupjansk als Eisenbahnknoten mit Anschluss an das russische Bahnnetz diente zur Versorgung der Truppen. Von Isjum und Balaklija aus sollten die Angreifer die ukrainischen Verteidiger im Grossraum Slowjansk, der letzten von Kiew gehaltenen Festung im Donbass, in die Zange nehmen.
«Wird Überleben des Regimes erschweren»
Doch daraus wird nichts. Innerhalb weniger Tage haben Kiewer Truppen riesige Gebietsabschnitte zurückerobert. Der ukrainische Generalstab sprach am Sonntag von mehr als 3000 Quadratkilometern. Im Gebiet Charkiw kommt die Armee nicht nur in südlicher und östlicher Richtung voran, sondern auch nach Norden in Richtung Staatsgrenze. Im Laufe des Sonntags zogen sich die russischen Truppen aus weiteren Grenzorten zurück.
Experten sprechen bereits von der «bedeutendsten Gegenoffensive seit dem Zweiten Weltkrieg» und dem «vollständigen Zusammenbruch» der russischen Armee. Gegenüber der «Bild» sagte Ex-Oligarch und Kreml-Kritiker Michail Chodorkowski (59): «Die militärische Niederlage von Putins Armee in der Ukraine wird das Überleben des Regimes extrem erschweren.»
Der Einschätzung der US-amerikanischen Militärexperten vom «Institute for Study of War» nach übersteigen die ukrainischen Geländegewinne binnen weniger als einer Woche diejenigen der Russen seit April. «Die Befreiung von Isjum wäre der bedeutendste militärische Erfolg der Ukraine seit dem Sieg in der Schlacht um Kiew im März», schrieben die Experten am Sonntag.
Eroberungen wichtig fürs Image
Doch der militärische Erfolg der Ukraine ist nicht nur für Russlands Armee gefährlich – sondern auch für Kriegsführer Putin selbst. Denn im eigenen Land werden die Kritiker immer lauter. Und auch ehemalige Propagandisten sind nicht mehr so zuversichtlich wie zu Beginn des Krieges.
Sachar Prilepin (47) erklärte in einer populären Sendung etwa, dass sich Russland mit der aktuellen Stärke «nicht verteidigen und angreifen» könne. Auch TV-Moderator Wladimir Solowjow (58), sonst ein grosser Fan von Putins Angriffskrieg, sprach von «einer sehr ernsten, sehr schweren Situation».
Ulrich Speck (58), Militäranalyst beim German Marshall Fund, erklärte gegenüber der «Bild»: «Die Ukraine schwächt Putins imperiales Projekt und zerstört den Mythos der russischen Armee.» Die Schlinge scheint sich für Putin und seinen Traum von der Wiedergeburt der Sowjetunion immer enger zuzuziehen.
Auch die Wut der Bevölkerung wird lauter. Laut der «Bild» reagieren Nutzer vermehrt mit Wut-Emojis auf Nachrichten über den Kreml-Chef. (obf/SDA)