Am Wochenende feierte die Ukraine ihrer grössten Erfolge seit Kriegsbeginn vor mehr als einem halben Jahr: Unter dem Druck ihrer Gegenoffensiven gab Russlands Verteidigungsministerium am Samstag den Abzug eigener Truppen aus dem östlichen Gebiet Charkiw bekannt. Schlag auf Schlag erobern ukrainische Truppen derzeit Dutzende Städte von den Russen zurück. Binnen Stunden haben die Russen rund 3000 Quadratkilometer verloren – Territorium, das mit viel Blut und Tausenden von Opfern während etwa drei Monaten erobert worden war.
Vielerorts fliehen die Besatzer Hals über Kopf. Der ukrainische Generalstab berichtete unterdessen, russische Truppen flüchteten nicht nur aus Charkiw, sondern teils auch aus dem südlichen Gebiet Cherson. Videos in sozialen Medien zeigen von den Russen zurückgelassene Panzer und schweres Kriegsgerät. «Die Waffenlieferungen Russlands an die Ukraine sind in diesen Tagen sehr bemerkenswert», schreibt der Kriegskorrespondent Denis Trubetskoy ironisch auf Twitter. «Weiter so.» Zahlreiche Videos zeigen auch, wie die befreite Bevölkerung ukrainische Soldaten feiert und umarmt.
Selbst der von Russland geplante Vormarsch auf den Donbass scheint gescheitert – obwohl dort wahrscheinlich mehr russische Truppen stationiert waren als anderswo. Moskau scheine im Donbass «nichts mehr halten zu können», zitiert die «Moscow Times» Phillips O'Brien, Professor für strategische Studien an der University of St. Andrews in Schottland. O'Brien spricht von einem «völligen Zusammenbruch» der russischen Streitkräfte.
Amerikaner liefern Informationen
Blitzschläge der Ukraine zwingen die Russen allenthalben zu Rückzügen. Kiew stützte sich bei der Planung der Gegenoffensiven offenbar auf US-Geheimdienste, wie die «New York Times» berichtet. Kiew und Washington würden «laufend» Strategien diskutieren, wie der russische Vormarsch zu stoppen sei.
Die Amerikaner geben demnach Informationen über russische Kommandoposten, Munitionsdepots und andere Ziele an Kiew weiter und decken «russische Schwachstellen» auf. Hinzu kommen mehr und präzisere Waffen aus dem Westen. Kiew düpiert die Invasoren – und übernimmt militärisch die Initiative. Wie die Kreml-Streitkräfte im Nordosten der Ukraine ein militärisches Debakel erleben, wächst der Druck auf Kriegspräsident Wladimir Putin (69).
Mehr zum Krieg in der Ukraine
Plötzlich will Moskau verhandeln
Die Ukraine demütigt die Russen – und allen voran Diktator Putin. Dieser hat seit Kriegsbeginn bereits zweimal das Oberkommando der Streitkräfte gewechselt. Jetzt will er seine Generäle nicht mehr sehen, meldet die «Moscow Times» weiter. Nach der schwersten Niederlage seit Kriegsbeginn bei Charkiw sagte Putin ein Treffen mit der Militärführung in Sotschi ab.
Derweil scheinen die Russen plötzlich um Verhandlungen mit der Ukraine bemüht. Russische Medien zitieren Aussenminister Sergej Lawrow (72), wonach Gespräche so bald wie möglich stattfinden sollten. Ansonsten werde es schwierig, einen Konsens zu erzielen: «Diejenigen, die sich weigern, sollten verstehen, dass es für sie umso schwieriger wird, mit uns zu verhandeln, je länger sie diesen Prozess hinauszögern», so Lawrow.
Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski (44) sagte dazu, er spreche grundsätzlich nicht mit denen, die Ultimaten stellen. Er wolle «bis zum Ende kämpfen», zitiert ihn «Prawda». Mit Moskau würden erst Abkommen unterzeichnet, wenn auch die letzten russischen Soldaten die ukrainischen Gebiete verlassen hätten.
Selenski: «Wir werden nicht still stehen»
Selenski hat sich angesichts der Rückeroberungen und des mittlerweile seit 200 Tagen andauernden Kriegs bei seinen Landsleuten für die Verteidigung der Heimat bedankt. «In diesen 200 Tagen haben wir viel erreicht, aber das Wichtigste und damit das Schwierigste liegt noch vor uns», sagte Selenski in seiner Videoansprache in der Nacht zum Montag.
Selenski bedankte sich unter anderem bei den ukrainischen Bodentruppen, der Luftwaffe, den Seestreitkräften – und bei allen, die in diesen Tagen «die Geschichte der Unabhängigkeit, die Geschichte des Sieges, die Geschichte der Ukraine» schrieben. Die nächsten paar Wochen seien wichtiger als mehr als drei Jahrzehnte Unabhängigkeit.
Zuvor bezeichnete Selenski die Rückeroberungen als möglichen Durchbruch im monatelangen Krieg. Im Winter könnten die ukrainischen Streitkräfte weitere Geländegewinne erzielen, falls Kiew mehr leistungsstarke Waffen erhalte, sagt Selenski zu CNN. Die ukrainische Armee werde weitere Fortschritte machen: «Wir werden nicht still stehen.»
«Darauf haben wir schon lange gewartet»
Wie sich die Ereignisse an der Front überschlagen, kleben Menschen förmlich an ihren Telefonen, wie der Kiew-Korrespondent der «New York Times» berichtet. Sie seien aufgeregt über die neuesten Entwicklungen. «Darauf haben wir schon lange gewartet», wird ein Familienvater zitiert. «Meine Frau, meine Kinder und ich – wir sind alle sehr aufgeregt. Ich glaube, das ist ein grosser Wendepunkt in diesem Krieg.» (kes)