Die Welt steckt in einer Energiekrise. Die Versorgungssicherheit ist ins Zentrum der Debatten gerückt. Regierungen von Deutschland bis Grossbritannien kündigen an, ihre Kernkraftwerke länger laufen zu lassen. In der Schweiz haben bürgerliche Kreise eine Initiative lanciert, die das AKW-Bauverbot aufheben soll. Erlebt die Atomenergie gerade eine Wiedergeburt?
Nicht, wenn es um die nackten Zahlen geht. Der Anteil der Kernkraft an der weltweiten Stromproduktion ist von Mitte 2021 bis Mitte 2022 auf 9,8 Prozent gesunken. Das ist der tiefste Stand seit vier Jahrzehnten. 1985 lag er noch bei 15 Prozent. Wind- und Solarenergie hingegen machen erstmals über zehn Prozent aus. Sie haben die Atomkraft überholt. Das zeigt der World Nuclear Industry Report 2022, ein umfassender statistischer Bericht aus der Feder internationaler Experten.
Im vergangenen Jahr erzeugten 411 Reaktoren in 33 Ländern 2653 Terawattstunden Strom. Damit ist ihre Produktion zwar gestiegen, doch ihr Anteil an der Gesamterzeugung nimmt kontinuierlich ab. In den letzten zwölf Monaten wurden sechs Reaktoren aufgeschaltet und acht vom Netz genommen.
In zehn Jahren ging nur ein europäisches AKW ans Netz
«Dass die ganze Welt jetzt AKW baue, ist ein Märchen», sagt Fabian Lüscher (33), Leiter Atomenergie bei der Schweizerischen Energie-Stiftung (SES). «Der Trend geht genau in die andere Richtung.»
Die Ankündigungen der Politik seien mit Vorsicht zu geniessen, so Lüscher. «Die Regierungen stehen unter Druck. Versprechungen von Kernenergie klingen verlockend, weil es um Kraftwerke mit grosser Leistung geht.» Tatsächlich wurde in den letzten zehn Jahren in Europa ein einziges Kernkraftwerk ans Netz angeschlossen, in Finnland.
Von einem Ende des Atomzeitalters kann allerdings genauso wenig die Rede sein. In China wurden in den letzten 20 Jahren 50 neue Werke in Betrieb genommen. Keines wurde stillgelegt. Wirtschaftliche Gründe stecken kaum dahinter: Von 2009 bis 2020 sind die Kosten für Kernenergie um 36 Prozent gestiegen. Im gleichen Zeitraum ist die Sonnenenergie um 90 Prozent günstiger geworden.
AKW sind nicht Heilmittel, sondern Risiko
Doch Atomkraft lässt sich nicht nur für zivile Zwecke nutzen. Heute werden 83 Prozent der Reaktoren von Atomwaffenstaaten gebaut. Der französische Präsident Emmanuel Macron (44) benannte den Zusammenhang vor einem Jahr in aller Offenheit: «Ohne zivile Atomkraft keine militärische Atomkraft, ohne militärische Atomkraft keine zivile Atomkraft.»
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Und die Versorgungssicherheit? Derzeit liegt Frankreichs halber Nuklearpark flach. Die Betreiber rechnen mit ungeplanten Produktionsausfällen von mindestens 60 Terawattstunden. Das entspricht dem jährlichen Stromverbrauch der Schweiz, die von Macrons AKW-Debakel ebenfalls betroffen ist. Denn sie importiert im Winter viel Saft aus den Kraftwerken des Nachbarlandes.
«AKW sind nicht das Heilmittel», sagt Fabian Lüscher von der Energie-Stiftung. «Sie sind das zentrale Risiko. Nichts demonstriert das zurzeit eindrücklicher als die Situation in Frankreich.»