Der Schweiz droht im Winter Energieknappheit. Eine Krise zieht herauf, die sich durch den russischen Krieg gegen die Ukraine noch verschärft: Putin nutzt die Gasexporte als Waffe gegen den Westen. Und auch wenn die Schweiz weniger stark vom Kreml abhängt als manche Nachbarn – früher oder später bekommt auch die Eidgenossenschaft diese Eskalation zu spüren.
«Es geht ums Ganze», warnt Energieministerin Simonetta Sommaruga (62, SP). Bloss: Wie der Bundesrat Stromlücke und Lieferausfälle auffangen will, ist unklar. Eine unmögliche Situation für die heimischen Betriebe, kritisiert Gewerbeverbandspräsident und Mitte-Nationalrat Fabio Regazzi (60, TI).
«Unternehmen haben Angst»
Patron Regazzi betreibt in dritter Generation im Tessin eine Rolladenfabrik mit über 130 Mitarbeitern. «Als Unternehmer weiss ich: Das Schlimmste ist die Unsicherheit», sagt er. Auf eine Energieknappheit könne er grundsätzlich reagieren. «Eine mögliche Stromknappheit aber, bei der völlig offen ist, wann und wie rationiert wird, ist für Firmen schlicht nicht kalkulierbar.»
Die Rückmeldungen aus den Betrieben seien eindeutig: «Die Unternehmen haben Angst. Wer viel Energie benötigt, weiss derzeit nicht, ob und wie er sein Geschäft im Notfall weiterbetreiben kann.»
Stromlücke schon bekannt
Regazzi verlangt vom Bundesrat Klarheit, er müsse aufzeigen, wie seine Notfallpläne und Szenarien aussähen. «Aber ich habe den Eindruck, dass die Regierung selbst noch ziemlich ahnungslos ist. Das geht nicht», kritisiert der Mitte-Parlamentarier.
Auch wenn man den Krieg Russlands nicht habe einberechnen können, sei die drohende Stromlücke schon länger bekannt. «Dieses Problem ist nicht neu und es wird mit der zunehmenden Elektrifizierung des Verkehrs und der Heizungssysteme nur noch grösser.»
Regazzi ist sich nicht sicher, ob in der Vergangenheit alle Faktoren richtig berücksichtigt wurden, als die Energiestrategie des Bundes gezimmert wurde. «Fehler passieren, wenn Entscheide gefällt werden», meint er. Wichtig sei, wie nun darauf reagiert werde.
Kernenergie noch immer Option
«Wir sagten: ‹Lasst uns die Wasserkraft ausbauen!› Das gelang uns nicht», sagt der Gewerbeverbandspräsident. «Beim Solarstrom gibt es Fortschritte, aber das reicht leider nicht.» Damit rührt Regazzi an den Grundsätzen der Schweizer Energiepolitik.
Und er geht noch einen Schritt weiter. Der längst beschlossene Abschied von der Kernenergie ist für den Tessiner Politiker nicht in Stein gemeisselt. Im Gegenteil. Er sei nie dafür gewesen, Technologien einfach zu verbieten und aus der Diskussion auszuschliessen. «Der Krieg und die nun drohende Energieknappheit werfen diese grundsätzlichen Fragen wieder auf», sagt Regazzi.
Weniger aus russisches Gas angewiesen
Während der Gewerbeverbandspräsident hart mit dem Bundesrat ins Gericht geht, erreichen Bern weitere Hiobsbotschaften. Am Freitag reiste eine Delegation von Schweizer Parlamentariern nach Paris und traf sich mit dem Vorsitzenden der Internationalen Energieagentur (IEA) Fatih Birol.
Für die SVP nahm der Zürcher Nationalrat Alfred Heer (60) teil. Sein Fazit: Die Schweiz ist nicht in der gleichen Lage wie Deutschland oder Österreich. «Wir sind weniger stark auf russisches Gas angewiesen. Aber die Gespräche machten deutlich, es wird auch für uns ungemütlich.»