Bundesrätin Keller-Sutter zum Ukraine-Krieg
«Ich frage mich, wie lange die Solidarität hält»

In nur vier Monaten hat die Schweiz fast 60’000 Vertriebene aus der Ukraine aufgenommen. Bundesrätin Karin Keller-Sutter spricht von einer Herkulesaufgabe.
Publiziert: 03.07.2022 um 00:35 Uhr
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Aktualisiert: 09.06.2023 um 11:39 Uhr
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Niemand mehr rechnet mit einem schnellen Ende des Kriegs. Auch Justizministerin Karin Keller-Sutter nicht: «Im wahrscheinlichsten Szenario gehen wir davon aus, dass sich die Fronten in der Ukraine weiter verhärten und es zu einem langwierigen Abnützungskrieg im Osten und Süden kommen wird.»
Foto: Philippe Rossier
Interview: Christian Dorer und Sven Zaugg

Russland liess in den vergangenen Tagen abermals einen Hagel von Bomben auf ukrainische Städte nieder. Niemand mehr rechnet mit einem schnellen Ende des Kriegs. Auch Justizministerin Karin Keller-Sutter nicht. Doch die russische Invasion sei nicht die einzige Herausforderung, mahnt die Bundesrätin mit Blick auf die fragile Weltwirtschaft. Ein Gespräch über Migration, die Energiekrise und bröckelnde Solidarität.

SonntagsBlick: Frau Bundesrätin, wagen Sie eine Prognose zum Krieg in der Ukraine?
Karin Keller-Sutter: Wir müssen mit verschiedenen Szenarien rechnen und haben diese auch ausgearbeitet. Im wahrscheinlichsten Szenario gehen wir davon aus, dass sich die Fronten in der Ukraine weiter verhärten und es zu einem langwierigen Abnützungskrieg im Osten und Süden kommen wird.

Rechnen Sie deshalb mit einer noch grösseren Fluchtbewegung?
In der Schweiz gingen die Gesuche für den S-Status zurück. Wir bearbeiten momentan noch rund 100 pro Tag, zeitweise waren es täglich 1800. Es ist aber immer möglich, dass sie wieder ansteigen. Gleichzeitig ist es schwierig zu quantifizieren, wie viele Menschen bereits zurückgekehrt sind oder in den nächsten Wochen zurückkehren werden, da sie sich im Schengenraum 90 Tage frei bewegen dürfen. Vor allem aus Nachbarstaaten wie Polen oder der Slowakei kehren offenbar viele Flüchtende in die Westukraine zurück. Es gibt aber ein weiteres Szenario, das uns mehr Sorgen bereitet.

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Welches?
Die Situation in der Ukraine könnten sich im Winter drastisch verschlechtern, falls die Energie- und Lebensmittelversorgung nicht mehr gewährleistet sein sollte. Es gibt heute schon 6,3 Millionen Vertriebene innerhalb der Ukraine, die unter sehr harten Bedingungen leben. Wenn sie beispielsweise im Winter nicht heizen können, wenn das Essen knapp wird, könnten auch diese Menschen in ein westeuropäisches Land flüchten. Ein drittes Szenario könnte sein, dass sich die Kampfhandlungen auf die ganze Ukraine ausweiten, was zu noch grösseren Flüchtlingsströmen führen würde. Dieses Szenario erachten wir derzeit aber als unwahrscheinlich.

Wie ist die Situation mit den übrigen Flüchtlingen?
Bei der Migration aus Drittstaaten verzeichnen wir steigende Zahlen. Und der Migrationsdruck auf Europa dürfte aufgrund der wirtschaftlichen Situation unter anderem in Nordafrika weiter steigen. Wir leben in einer Zeit, in der sich Krisen nicht ablösen, sondern überlagern.

Worauf müssen wir uns gefasst machen?
Im Herbst könnte Corona zurückkehren, die Zahlen steigen ja jetzt schon. Gleichzeitig droht eine Energiekrise. Unterbrochene Lieferketten verknappen wichtige Güter. Dazu kommt die Inflation. Die globale Wirtschaftslage ist so fragil wie schon lange nicht mehr. Da frage ich mich natürlich: Wie lange hält die Solidarität mit den Vertriebenen an, wenn es der EU zu einer Rezession kommt. Das hätte auch Auswirkungen auf die Schweiz.

Russlands Krieg gegen die Ukraine dauert schon mehr als vier Monate. Noch nie hat die Schweiz innert so kurzer Zeit so viele Flüchtlinge aufgenommen – fast 60’000. Ihre Bilanz?
Gemessen an den Herausforderungen haben wir das gut bewältigt. Eine Fluchtbewegung in diesem Ausmass und in dieser Geschwindigkeit haben wir seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr erlebt. Innerhalb von nur vier Monaten mussten acht Millionen Menschen die Ukraine verlassen. In der Schweiz haben bislang exakt 58'391 Flüchtende den Schutzstatus S beantragt.

Es kommt immer wieder zu bürokratischen Irrläufen. Was läuft schief?
Entscheidend ist: Im Gegensatz zum Ausland haben bei uns alle ein Dach über dem Kopf, werden betreut und verpflegt. Aber es ist das erste Mal, dass wir den Schutzstatus S anwenden, da ist es logisch, dass nicht alles immer auf Anhieb funktioniert. Wir wollen unbürokratisch sein, aber eben auch gründlich. Und ja es stimmt: die Prüfung der Gesuche nimmt eine gewisse Zeit in Anspruch. Wenn Sie als Schweizer Sozialhilfe beantragen, wird Ihr Gesuch auch eingehend geprüft. Das soll bei Flüchtenden nicht anders sein.

Blick hat publik gemacht, dass sich in Burgdorf mehr als 100 Flüchtlinge in einem Brief an die Behörden wandten, weil die Flüchtlingssiedlung schlecht geführt werde, Personal nicht abkömmlich sei, Geld nicht ausbezahlt würde. Was tun Sie?
Ich kann diesen Fall nicht beurteilen. Der zuständige Regierungsrat hat ja gesagt, er kläre das ab. Ich muss aber betonen: Die Behörden mussten in kürzester Zeit eine Herkulesaufgabe bewältigen und dies zusätzlich zum ordentlichen Asylwesen. Dieses steht ja nicht still. Wir bearbeiten jährlich rund 15’000 neue Asylgesuche. Auch diese Menschen müssen untergebracht und betreut werden, dazu kommen Rückführungen und Nothilfe-Fälle. Trotzdem ist es wichtig, dass Abläufe fortlaufend verbessert werden.

Warum werden nicht mehr Flüchtlinge privat untergebracht, obwohl viele Angebote vorliegen?
Auch das ist Sache der Kantone. Einige haben entschieden, dass sie von einer Zusammenarbeit mit Privaten absehen und Kollektivunterkünfte bevorzugen. Wir respektieren das. Die Flüchtlingshilfe erhielt vom Bund den Auftrag, direkt aus den Bundesasylzentren Schutzsuchende an Familien zu vermitteln, falls ein Kanton das wünscht. Ihr wurde dann vorgeworfen, sie arbeite zu langsam – dabei hat sie einfach zu Recht sorgfältig geprüft, ob die Konstellation passt.

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Wie erleben Sie die Solidarität nach vier Monaten Krieg?
Ich habe Hochachtung vor der Solidarität der Schweizer Bevölkerung. Sie ist nach wie vor gross. Sie sehen, es sind 80 Prozent Frauen und Kinder, die zu uns flüchten, nicht aus wirtschaftlichen Gründen, sondern weil sie ihre Kinder vor den russischen Bomben in Sicherheit bringen wollen. Wichtig ist, dass es zu keinem Missbrauch kommt. Deshalb verliert den Status S, wer mehr als 15 Tage pro Quartal in der Ukraine ist. Wer seinen Lebensmittelpunkt in ein anderes Land verlegt, soll hier keine Hilfe mehr erhalten. Da müssen die Behörden ganz genau hinschauen.

Wie viele Fälle von Missbrauch gab es bisher?

Dem Staatssekretariat für Migration sind keine Fälle von Sozialhilfemissbrauch bekannt. Wir haben eine Umfrage bei den Kantonen gemacht. Es gab Einzelfälle, wo Personen aus der Ukraine ohne Arbeitsbewilligung angestellt wurden. Die kantonalen Behörden suchen dann jeweils das Gespräch mit den Arbeitgebenden. Wenn aber dem SEM konkrete Fälle gemeldet werden, wird der Schutzstatus S widerrufen.

Warum arbeiten nicht mehr Flüchtende?
Von den 57’800 Geflüchteten sind nur etwa 32’000 im erwerbsfähigen Alter. Davon sind 80 Prozent Frauen. Aber nach vier Monaten arbeiten schon deutlich mehr Aufgenommene aus der Ukraine als dies bei anderen Flüchtlingsgruppen nach so kurzer Zeit der Fall ist.

Zentral dafür ist der Erwerb der Sprache…
Der Bund stellt darum pro Person 3000 Franken für Sprachkurse zur Verfügung. Es ist aber auch Aufgabe der Wirtschaft, sich für die Fachkräfte zu engagieren.

Wie sollen die Frauen arbeiten, wenn es keine Kinderbetreuung gibt?
Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist eine der grösseren politischen Baustellen der Schweiz. Hier gibt es noch sehr viel zu tun – unabhängig von den Flüchtlingsfrauen. Hier wird es einfach einmal mehr offensichtlich. Mir persönlich ist es wichtig, dass alle Frauen, die arbeiten wollen, auch arbeiten können.

In welchen Branchen finden am meisten Flüchtlinge Stellen?
In der Gastronomie, gefolgt von der Informatik, der Landwirtschaft und dem Unterrichtswesen. GastroBern zum Beispiel hat extra Einführungs- und Sprachkurse für Ukrainerinnen lanciert.

Glauben Sie, dass die Flüchtlinge tatsächlich wieder zurückgehen, falls der Krieg noch lange dauert?
Ja, ich gehe davon aus, dass sie zurück wollen. Doch wenn die Kinder eingeschult sind, wenn der Mann im Krieg fallen sollte, wenn sie hier vielleicht eine Arbeit haben, könnte es natürlich gut sein, dass einige auch bleiben wollen.

Wie entscheidet der Bundesrat, ob eine Rückreise wieder zumutbar ist?
Ich habe letzte Woche intern ein Projekt in Auftrag gegeben. Das Staatssekretariat für Migration muss jetzt alle rechtlichen, organisatorischen und logistischen Fragen klären, unter welchen Umständen und wie die Menschen dereinst zurückkehren können. Wir müssen dies jetzt vorbereiten und können nicht bis Weihnachten warten, weil der Schutzstatus ja grundsätzlich auf ein Jahr begrenzt ist, also bis März 2023. Klar ist für mich aber auch: Das Ende des Schutzstatus oder eine Verlängerung kann nur europäisch koordiniert stattfinden.

Kann es auch plötzlich schnell gehen?
Bei einem Waffenstillstand oder bei der Errichtung einer Schutzzone müsste man international rasch entscheiden, was passieren soll.

Sie haben eine Evaluationsgruppe eingesetzt, die Verbesserungen herbeiführen soll. Was ist Ihr Ziel?
Die Gruppe wird Anfang Juli ihre Arbeit aufnehmen, um den Schutzstatus S zu überprüfen, also was gesetzlich fehlt, was man für die Zukunft regeln soll. Der Schutzstatus S wurde 1999 nach den Erfahrungen des Jugoslawienkriegs ins Leben gerufen. Er hat sich bewährt, trotzdem können Anpassungen nötig sein.

Welche?
Aus meiner Sicht, müsste ins Gesetz, dass die Schweiz Einführung und Ende des Schutzstatus mit dem Schengenraum koordiniert. Etwas anderes ist aus praktischen Gründen nicht möglich. Zudem könnten die Abläufe zwischen Bund, Kanton und Gemeinden klarer definiert werden. Ich erwarte einen Zwischenbericht bis Ende Jahr.

Wie lange ist es eigentlich noch opportun, dass Flüchtlinge aus der Ukraine anders behandelt werden als Flüchtende aus Afghanistan oder Syrien?
Der Schutzstatus S ist die Ausnahme, nicht die Regel. Er wurde geschaffen, um eine grosse Gruppe, die von Gewalt und Krieg bedroht ist und in der Schweiz Schutz sucht, schnell und unbürokratisch vorübergehend aufnehmen zu können.

Das klingt exakt nach syrischen oder afghanischen Flüchtlingen…
Man kann das nicht vergleichen. Der Schutzstatus S ist rückkehrorientiert. Es geht nicht um Menschen, die permanent Schutz suchen. Das Asylverfahren hingegen ist individuell, man klärt also ab, ob jemand an Leib und Leben bedroht ist und verfolgt wird. Stellen Sie sich den Leerlauf bei den Ukrainern und Ukrainerinnen vor: Man müsste Tausende von Asylverfahren durchführen, bei Menschen, die nur bei uns nur einen vorübergehenden Schutz suchen.

Sie legitimieren die rechtliche Ungleichheit mit Effizienz?
Ja, weil bei den ukrainischen Flüchtlingen schneller, kollektiver Schutz nötig war und nicht die individuelle Abklärung. Wenn wir 60’000 Asylverfahren hätten durchführen müssen, wäre das System kollabiert.

Die SVP kritisiert genau das: Ohne die Leute individuell anzuschauen, haben sie Zugang zu Arbeitsmarkt, Sozialversicherungen und Krankenkassen.
Die Berechtigung für den Status S wird sehr wohl überprüft. Aber es macht keinen Sinn, in jedem Fall ein Asylverfahren durchzuführen, das wäre ein gewaltiger Kostentreiber. Zudem wäre es gar nicht möglich gewesen. Unser Asylsystem ist ausgelegt auf rund 16’000 Gesuche pro Jahr und nicht auf 60'000 oder noch mehr. Nochmals der Status S beabsichtigt lediglich den vorübergehenden Schutz.

Sie wurden als Justizministerin zum Gesicht der humanitären Schweiz. Gleichzeitig will ihre Partei das Asylwesen verschärfen. Tut Ihnen das weh?
Ich empfinde die Vorschläge nicht als Verschärfung, sondern als Rückendeckung für Bundesrat, Parlament und Volk. 2016 hat eine Mehrheit das neue Asylgesetz und beschleunigte Verfahren gutgeheissen. Die Bevölkerung erwartet zu Recht, dass Verfahren effizient geführt werden und jene, die Schutz brauchen, auch Schutz erhalten. Sie erwartet aber auch, dass Personen, die die Schweiz verlassen müssen, die Schweiz auch tatsächlich verlassen.

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