Nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima im Jahr 2011 beschloss die Schweiz den Ausstieg. Die bestehenden Atomkraftwerke dürfen am Netz bleiben, solange sie sicher sind. Bloss: Was heisst «sicher»?
Seit 2015 wird die Axpo diese Frage nicht mehr los. Damals musste der Energiekonzern das AKW Beznau 1 abschalten. Am Reaktordruckbehälter waren mehr als tausend Materialfehler entdeckt worden. Und weil mit der Sicherheit der Schutzhülle nicht zu spassen ist, liess die Axpo sie auf Geheiss des Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorats (Ensi) überprüfen.
Daraus wurde ein langwieriger Prozess. Erst drei Jahre später akzeptierte die Atomaufsicht den Sicherheitsnachweis für Beznau 1. Dafür schien die Sache umso klarer. «Beznau ist sicherheitsmässig sehr fit», hielt Ensi-Direktor Hans Wanner (66) fest. Der damalige Axpo-Chef Andrew Walo (59) erklärte: «Wir haben eine Anlage, die auf dem neusten Stand der Technik ist.» Nach 1100 Tagen Stillstand ging Beznau 1 im Jahr 2018 wieder ans Netz.
«Diverse Mängel»
Für den Sicherheitsnachweis liess die Axpo Bruchtests mit Materialproben des betroffenen Reaktorrings durchführen, die gemäss Atomaufsicht für den Nachweis von zentraler Bedeutung waren. Das Problem ist nur: «Die Bruchtests weisen diverse Mängel auf», sagt Fabian Lüscher (33), Leiter Fachbereich Atomenergie der Schweizerischen Energie-Stiftung (SES).
Lüscher stützt sich auf ein neues Gutachten des Wissenschaftlers Kim Wallin (66). Der finnische Materialexperte für Reaktordruckbehälter kommt zum Schluss: «Der fraktografische Bericht enthält nur eine oberflächliche Untersuchung verschiedener mikrostruktureller Merkmale auf den Bruchstellen.» Gemäss Wallin fehlen Details zur Lage der gefundenen Merkmale und eine statistische Analyse ihrer Verteilung und Häufigkeit. Auch Aussagen über die betriebsbedingte Versprödung des Reaktorbehälters seien auf Basis des Berichts nicht zu treffen. Überhaupt nicht untersucht worden sei die nachteilige Wirkung von Mangansulfid-Einschlüssen, so Wallin. Fazit: «Der Bericht erscheint unvollständig.»
Wallins Kritik am fraktografischen Untersuchungsbericht sei sicherheitsrelevant, sagt Fabian Lüscher von der SES. «Das Vorgehen der Axpo bei der Beauftragung des Berichts war einseitig auf gewünschte Ergebnisse fokussiert, ohne sämtliche Analysen einzufordern, die für eine umfassende Bewertung erforderlich sind.»
In diesen Tagen hat im AKW Beznau die Jahresrevision begonnen. Unter anderem steht eine Ultraschall-Untersuchung des Reaktordruckbehälters von Beznau 1 an. Doch für Lüscher ist das nicht genug: «Die Bedenken zum Sicherheitsnachweis müssen geklärt und die festgestellten Lücken im fraktografischen Bericht behoben werden, bevor Beznau 1 nach der Jahresrevision wieder angefahren wird.» Es gehe hier nicht um technische Spitzfindigkeiten, sagt Lüscher. «Solange der Sicherheitsnachweis in Frage steht, ist die Sicherheit nicht gewährleistet.»
Axpo schweigt
Weder das Ensi noch der kritisierte Stromkonzern nehmen zu den konkreten Vorwürfen Stellung. «Wir kennen das neue Gutachten nicht», so die Axpo. Sie hält aber fest: «Mit dem von der Schweizer Aufsichtsbehörde und von einem internationalen Expertengremium bestätigten Sicherheitsnachweis wies das Kernkraftwerk Beznau gemäss Stand von Wissenschaft und Technik sowie gemäss nationalem und internationalem Regelwerk überprüfbar nach, dass die Sicherheit des Reaktordruckbehälters von Block 1 gewährleistet ist.»
Auch das Ensi betont: «Das Kernkraftwerk Beznau 1 erfüllt die Anforderungen an einen sicheren Betrieb.»